Schwarz-Rot-Gold mit braunen Flecken
Historiker klopften die Biografien früherer Landtagsabgeordneter auf eine etwaige NS-Vergangenheit ab. Das Ergebnis liegt nun vor: Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Parlament war höher als gedacht.
Als am 30. Januar 1946 der „Ernannte Oldenburgische Landtag“ erstmals tagte, waren unter den – von der britischen Militärregierung eingesetzten – 54 Abgeordneten auch drei ehemalige Nationalsozialisten. Die Frage, inwieweit diese drei eine besondere Belastung für den Geburtsprozess der neuen deutschen Demokratie darstellten, klingt zunächst eher akademisch – aber es blieb nicht bei diesen niedrigen Zahlen. 1955 hatte jeder dritte niedersächsische Landtagsabgeordnete eine braune Vergangenheit, wie die vom Landtag eingesetzte Historische Kommission nachweisen konnte.
Niedersachsen ist damit das erste Land, in dem das Parlament die eigene Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten ließ. Ein „längst überfälliger Anfang“, lässt die Linke-Fraktion verlauten – sie hatte vor vier Jahren die entsprechende Debatte angestoßen, die in die nun vorliegende, mehr als 200 Seiten starke Studie mündete. Die Debatte hatte sich 2008 an einer Aussage des stellvertretenden CDU-Fraktionschefs Bernd Althusmann entzündet: „Die CDU hat ihre geistigen und politischen Wurzeln im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus“, sagte der heutige Kultusminister seinerzeit: „Das ist die Wahrheit.“ Die Linke beauftragte daraufhin den Oldenburger Historiker Hans-Peter Klausch mit der Überprüfung dieser Behauptung.
Zwar gibt es bereits seit 15 Jahren ein biografisches Handbuch der niedersächsischen Landtagsabgeordneten, das bis zum Jahr 1994 reicht und damit den in Frage kommenden Zeitraum zum allergrößten Teil abdeckt. Die darin enthaltenen Angaben seien bezüglich der NS-Vergangenheit der Parlamentarier allerdings mit Skepsis zu betrachten, meint Klausch – man müsse „davon ausgehen …, daß manche Angaben des Handbuches ‚geschönt’“ seien. Im Eintrag zum Oldenburger CDU-Abgeordneten und Oberbürgermeister (1961-64) Wilhem Nieberg heißt es: „Von 1919 bis 1933 Ratsherr und Mitglied des Stadtmagistrats Oldenburg. Bis 1933 Vorsitzender des Kreisverbandes und des Landesverbandes Oldenburg der Deutschen Volkspartei. 1945 Mitbegründer des Kreisverbandes Oldenburg der CDU, seit 1946 Vorsitzender. Später Ehrenvorsitzender. Seit 1945…“ und so weiter. Für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 tut sich, wie so oft in biografischen Publikationen der Nachkriegsrepublik, ein schwarzes Loch auf, mehr noch: Die wiederholte Verwendung der Formel „bis 1933“ impliziert eine Gegnerschaft des Mannes zu den Nazis – allerdings trat Nieberg der Partei 1937 bei, und das wohl auch freiwillig: „Zu einem solchen Schritt wurde doch niemand gezwungen“, schreibt Klausch: „Und auch für den Fall, dass man seinen beruflichen Aufstieg gefährdet sah, genügte doch ein Beitritt etwa in den Reichsluftschutzbund oder aber in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), um sich entsprechend abzusichern.“
Der Historiker nahm sich insgesamt 297 Abgeordnete der CDU, der ihr nahe stehenden und später zum Teil in ihr aufgegangenen „Deutschen Partei“ (DP) sowie der FDP vor, die aufgrund ihres Lebensalters als früheres NSDAP-Mitglied in Frage kamen. Für keine dieser Personen habe das Handbuch eine „Mitgliedschaft in der NSDAP, in der SA oder SS“ aufgeführt, was wohl auch daran lag, dass die Hauptquelle für das Buch in den Angaben der Parlamentarier selbst zu suchen ist, die ihre NS-Vergangenheit nicht gerade überbetonten. Klausch konnte in der 2008 veröffentlichten Broschüre eine solche indes für nicht weniger als 71 Abgeordnete nachweisen – die zitierte Aussage Althusmanns gehöre, so das Fazit, „in dieser Rigorosität und Einseitigkeit in das Reich der Legenden und Schimären“.
Was ein Stück weit auch als parteipolitischer Grabenkampf begann, hat sich zu einem Maßstäbe setzenden Forschungsprojekt entwickelt. Der Landtag beauftragte 2009 die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen mit der Untersuchung der Biografien aller in Frage kommenden Abgeordneten. Der vom zu diesem Zweck eingestellten Historiker Stephan Alexander Glienke herausgegebene Bericht zeigt das Ausmaß der politischen Kontinuitäten zwischen dem „Dritten Reich“ und dem jungen Bundesland, die „stärker waren, als man das heute wahrhaben will“, wie es Adler formuliert. Von den untersuchten 755 Abgeordneten der nur 1945/46 bestehenden „Ernannten Landtage“ in Oldenburg, Braunschweig und Hannover sowie des 1947 erstmals gewählten niedersächsischen Landtags gibt es bei einem guten Viertel (204 Abgeordnete) Hinweise auf eine Mitgliedschaft in der NSDAP.
Nun ist die Parteizugehörigkeit allein noch kein Nachweis für eine fortdauernde faschistische Gesinnung; niemand würde Politikern wie etwa Hans-Dietrich Genscher oder Erhard Eppler eine solche attestieren. Zudem war gut die Hälfte der betreffenden Personen wie so viele andere, die sich davon Vorteile erhofften, der Partei erst nach dem 1. Mai 1937 beigetreten, nachdem der zeitweilige Aufnahmestopp beendet worden war und die Nazis längst fest im Sattel saßen. Erschreckender ist, dass 42 Volksvertreter bereits vor dem 30. Januar 1933 der NSDAP angehörten, vier sogar schon vor 1928 – die gängige Erklärung einer unfreiwilligen Parteimitgliedschaft als einer, die aus rein opportunistischen Gründen erfolgt sei, zählt hier wohl kaum. Für diese Personen „ist anzunehmen, dass hier das größte Maß an inhaltlicher Übereinstimmung und Identifizierung mit den Zielen des Nationalsozialismus vorliegt“, heißt es daher auch im Bericht.
Zu ihnen zählt zweifellos der Ministerpräsident des Landes Oldenburg zwischen 1933 und 1945, Georg Joel – ein „treuer und überzeugter Anhänger und Verfechter der Grundsätze“ der NSDAP, für die er schon 1925, kurz nach ihrer Wiederzulassung, die Ortsgruppe Oldenburg gegründet hatte. Schon vor dem Hitler-Putsch vom 9. November 1923 hatte er ihr angehört; der SA-Brigadeführer – ein Rang, der beim Militär einem General entspricht – zählte somit, obwohl er das Amt des Ministerpräsidenten im jungen Alter von 34 Jahren übernahm, zu den „alten Kämpfern“. Oder der ehemalige SA-Gruppenführer Alfred Richter, der ab 1933 für die neuen Machthaber den Hamburger Polizeiapparat gesäubert und die Posten mit regimetreuen Personen besetzt hatte. Richter, der der Partei ebenfalls bereits 1923 beigetreten war, verschlug es nach dem Krieg nach Oldenburg, wo er 1952 Ratsherr für die von ihm mit aufgebaute Ortsgruppe der DP wurde und ab 1958, wenn auch nur für ein halbes Jahr, als Abgeordneter dieser Partei – die zu jener Zeit mit Heinrich Hellwege nicht nur den Ministerpräsidenten des Landes, sondern auch den Oldenburger Grünkohlkönig stellte – im Landtag saß.
Wie kommen solche Leute in ein demokratisches Gremium? Die Antwort ist in manchen Fällen – wie dem von Joel – ebenso einfach wie unappetitlich: Sie wurden nicht trotz, sondern offenbar wegen ihrer Geisteshaltung gewählt. Der ehemalige oldenburgische Ministerpräsident schloss sich nach Kriegsende der rechtsextremen „Deutschen Reichspartei“ an und zog, nachdem sie es in Niedersachsen 1955 auf 2,8 Prozent gebracht hatte, mit fünf Kollegen in den Landtag ein. 1959 erreichte sie sogar 3,6 Prozent, war jedoch nicht mehr im Parlament vertreten, da zu dieser Wahl erstmals die Fünfprozenthürde Anwendung fand. Die noch radikalere „Sozialistische Reichspartei“, die teils ganz offen die NS-Ideologie propagierte, brachte es 1951 sogar auf 16 Sitze. Zu den Mandatsträgern zählte der zeitweise in Varel lebende ehemalige SS-Obersturmbannführer August Finke, bis 1945 im Reichssicherheitshauptamt tätig. Das Entnazifizierungsverfahren hatte ihm eine sechsmonatige Haftstrafe und den vorübergehenden Entzug des passiven Wahlrechts eingebracht, dennoch bestimmte er für knapp eineinhalb Jahre bis zum Verbot der SRP die Landespolitik mit.
Der braune Muff hatte in diesen rechtslastigen bis -extremen Parteien – zu nennen wäre auch noch der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) und später, von 1967 bis 1970, die NPD – ohnehin nur seine sichtbarste Form gefunden, er fand sich aber auch hinter der demokratischen Fassade der anderen Parteien. Bis Mitte der 1950er-Jahre stieg die Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder sogar noch an, für den dritten Landtag von 1955 bis 1959 konnte die Kommission für nicht weniger als 61 Abgeordnete eine solche Vergangenheit nachweisen: 61 von insgesamt 181. Erst 1974 fiel der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder im niedersächsischen Landtag auf unter 25 Prozent. Alt- oder ehemalige Nazis saßen in allen Fraktionen – mit Ausnahme der KPD und später der Grünen, die allerdings bundesweit auch nicht völlig frei von NS-Altlasten war.
Am stärksten vertreten waren sie, und da decken sich die Ergebnisse der Kommission mit denen von Klausch, in der CDU und der DP. In den späten 50er- und frühen 60er-Jahren betrug der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Fraktionen mehr als 40 Prozent. Noch schlimmer sah es zeitweise bei der FDP aus, in der Legislaturperiode von 1967 bis 1970 hatten sechs der zehn Abgeordneten früher ein braunes Parteibuch. Und selbst bei der SPD, die neben den Kommunisten die meisten Opfer politischer Verfolgung unter dem NS-Regime zu verzeichnen hatte, traf dies zeitweise auf jedes fünfte Fraktionsmitglied zu.
All dies ist in dem vorliegenden Bericht tabellarisch und mit vielen Beispielen einzelner Biografien aufgeführt. Die Erstauflage beträgt 300 Exemplare; Landtagspräsident Dinkla kündigte bereits an, dass weitere nachgedruckt werden sollen – man wolle die Ergebnisse auch an die Parlamente anderer Bundesländer schicken. Niedersachsen könnte somit, 67 Jahre nach Kriegsende, zum Vorreiter werden: Vergleichbare Studien stehen noch aus, nur in Hessen wurden bereits Forschungen eingeleitet – ebenfalls durch Klausch, mit ähnlichen Ergebnissen. Der Historiker warnte indes bereits bei deren Vorstellung 2010 vor Pauschalverurteilungen der enttarnten Personen, die Fälle seien „unterschiedlich zu gewichten“. Die Bandbreite ist eben groß, und bei vielen sagt der Zeitpunkt des Beitritts nicht viel aus. Zum Beispiel beim Leeraner CDU-Abgeordneten Hermann Conring, der es sogar in den Bundestag schaffte und ihm 16 Jahre lang angehörte: Conring war erst 1937 NSDAP-Mitglied geworden – das könnte ihn als einen der nicht wenigen Menschen ausweisen, die sich auf dem Höhepunkt der NS-Herrschaft lediglich anpassen wollten und ansonsten nicht allzu viel auf die herrschende Ideologie gaben – aber schon 1933 hatte er laut Klausch die KZ-Inhaftierung eines Kaufmanns mit den Worten begründet: „Wegen seiner schädlichen, geschäftl. [sic] Handlungsweise gegenüber den deutschen Volksgenossen. Er ist Jude.“ Als Bevollmächtigter des Reichskommissars für die Niederlande schrieb er später: „Für die Provinz Groningen wäre es sehr wünschenswert, wenn die Juden möglichst bald aus der Nachbarschaft des Küstenplatzes Delfzijl … bevorzugt verschwänden.“ Dass Conring später dennoch das Bundesverdienstkreuz bekam, sei nur am Rande erwähnt.
Für die Linke ist der Bericht nicht nur ein politischer Erfolg, sondern auch ein „wichtiger Beitrag für eine kritische Vergangenheitsaufarbeitung“, zu dem sich Hans-Henning Adler nur kleinere Nachbesserungen wünscht: Ein umfassendes biografisches Verzeichnis der betreffenden Parlamentarier fehle, der Bericht nennt nur rund 70 Beispiele von „Personen, die besonders viel Dreck am Stecken hatten“. Das ginge noch detaillierter – schließlich, meint Adler, „hatten die ja auch alle einen Wahlkreis“. Die Studie ist daher ein wichtiger und bedeutsamer, aber eben auch nur dies: ein Anfang. „Jetzt müssen wir auch andere Bereiche des Landes Niedersachsen beleuchten“, fordert Linke-Fraktionschefin Kreszentia Flauger. Gemeint ist die Landesverwaltung: „Uns würde interessieren, wie es da im Einzelnen aussah – Ministerialdirektoren, Polizeipräsidenten und so weiter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da noch einiges zu finden sein wird“, sagt Adler.
Er wird Recht behalten. Denn schon die aktuelle Studie erwähnt, dass der kurzzeitige BHE-Abgeordnete Otto Wendt, NSDAP-Mitglied seit 1933, im Krieg Kreishauptmann in Galizien und als solcher in die dortige Judenverfolgung involviert, es 1952 zum Polizeipräsidenten brachte – in Oldenburg.