Die Schwelle überschritten
To seek or not to seek – wann durchsuchen Polizeibeamte eine Wohnung, und wann halten sie sich bloß darin auf? In einem Delmenhorster Fall sind die Beamten zu weit gegangen, urteilt das Oldenburger Verwaltungsgericht.
„Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?“ Ein ebenso beliebter wie abgegriffener Satz in TV-Krimis, der gleichwohl einen rechtsstaatlichen Grundsatz widerspiegelt: Eine Hausdurchsuchung darf nur mit richterlicher Genehmigung erfolgen, da sie einen schweren Eingriff in ein Grundrecht darstellt, nämlich die Unverletzlichkeit der Wohnung. Aber ab wann ist eine Durchsuchung eigentlich eine Durchsuchung? Der Polizeieinsatz in einer Delmenhorster Wohnung im vergangenen Sommer mit dem Ziel, einer abzuschiebenden Person habhaft zu werden, war eine – und, da kein richterlicher Beschluss vorlag, rechtswidrig. Das urteilte das Verwaltungsgericht Oldenburg am Mittwoch. Damit dürfte die Abschiebepraxis mancher Ausländerbehörde auf dem Prüfstand stehen.
Am 8. Juli 2011 hatten acht Polizisten das Wohngebäude der Familie Mujaj, die 1993 aus dem Kosovo nach Delmenhorst kam, betreten. Sie waren auf der Suche nach dem 28-jährigen Fitim Mujaj, dessen Abschiebung beschlossen war, und traten in dieser hohen Mannstärke auf, da ein vorangegangener Versuch einige Wochen zuvor angesichts von rund 100 vor dem Haus protestierenden Flüchtlingsaktivisten abgebrochen worden war. Die Beamten überprüften Wohn- und Kellerräume, den Dachboden sowie ein Nebengebäude, ohne Mujaj vorzufinden. Weil die Einsatzkräfte keinen Durchsuchungsbeschluss vorweisen konnten und sie auch kein Einverständnis zu einer Durchsuchung gegeben hatte, reichte die Mutter des Gesuchten als Wohnungsinhaberin Klage gegen das Land Niedersachsen ein. Die Beamten hätten nicht einmal geklingelt, sagte sie vor Gericht.
Die Praxis, eine Wohnung auch ohne Durchsuchungsbeschluss zu betreten, um einen Menschen zum Zweck der Abschiebung herauszuholen, ist offenbar verbreitet. Die Polizei berief sich auf Paragraf 24 Abs.5 des Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes. „Wohnungen dürfen jedoch zur Verhütung des Eintritts erheblicher Gefahren jederzeit betreten werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort [2.] sich Personen aufhalten, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen“, heißt es dort. Nach Angaben einer Vertreterin sei dieses Vorgehen auch bei anderen Ausländerbehörden üblich, zumal Richter Anträge auf Durchsuchungen oft mit Hinweis auf eben diesen Paragrafen ablehnten.
Eine Durchsuchung sei es ohnehin nicht gewesen, sagte sie weiter, schließlich seien keine Schränke geöffnet oder unter die Betten geschaut worden. Sie räumte allerdings ein, dass alle Räume von den Beamten begangen worden seien; auch seien zwei 14-jährige Enkel der Klägerin geweckt und nach ihrer Identität befragt worden – es hätte sich bei einem von beiden ja um den doppelt so alten Fitim handeln können. „Sie schliefen mit dem Gesicht zur Wand“, hieß es zur Rechtfertigung, und man wisse ja, dass Leute frühmorgens ein wenig anders aussehen. „Was sollen die Beamten denn machen – warten, bis alle Anwesenden aufwachen?“ Ein Beisitzer verwies zudem auf das fehlende Einverständnis der Klägerin zur Durchsuchung der Wohnung. Vielleicht habe die Kosovarin das Anliegen ja nicht richtig verstanden, mutmaßte die Polizeivertreterin.
Der Rechtsbeistand der Klägerin, der Bremer Anwalt Jan Sürig, sah das ganz anders: Es seien Bereiche überprüft worden, in denen sich Menschen zur fraglichen Uhrzeit normalerweise nicht aufhielten, es sei denn, sie verstecken sich. Bei dem Einsatz habe es sich demnach um eine – wie es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in einem anderen Fall heißt – „ziel- und zweckgerichtete Suche nach einer Person“ gehandelt, und dieser Auftrag allein reiche schon aus, um dem Einsatz als Durchsuchung einzuordnen. Spätestens, wenn die Beamten Handlungen vornehmen, die über das bloße Betreten einer Wohnung hinausgingen, sei dies der Fall.
Dieser Auffassung schloss sich das Gericht an und bezog sich dabei auf ähnliche Urteile des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts. Dass es mehrere Urteile und somit mehrere Definitionen einer Durchsuchung gibt, deutet darauf hin, dass keine eindeutige Grenze zu ziehen ist; und die von den Delmenhorster Behörden erstrebte Antwort auf die Frage, ab wann „diese Grenze überschritten“ sei, gab es nur in groben Zügen. Fest steht, dass sie im vorliegenden Fall mit der Begehung des kompletten Wohn- und Nebenbereichs sowie der Befragung von anwesenden Personen überschritten worden ist.
Die Ausländerbehörden in Niedersachsen werden ihre künftige Vorgehensweise wohl prüfen müssen. Der als Grundlage derartiger Einsätze offenbar beliebte Paragraf 24 Abs.5.2 ist nicht beliebig dehnbar, und für Sürig liegt das Problem ohnehin in den grundlegenden Rahmenbedingungen einer Abschiebung. „Der Flug ist gebucht, die Beamten handeln unter Zeitdruck“, sagt der Anwalt – das Ziel eines solchen Einsatzes laute stets: „Wir gehen hier ohne diese Person nicht raus.“ Und „bei so einem klaren Auftrag durchsucht man eine Wohnung – und betritt sie nicht bloß.“
Es mag sein, sagte der Richter abschließend, dass „der niedersächsische Gesetzgeber es sich ein bisschen zu einfach gemacht hat“.