Persönlicher Nahostkonflikt

Der Theatermacher Ilay den Boer ist ein alter Bekannter auf Oldenburgs Bühnen – dieses Jahr trat er beim Pazz auf, 2010 beim Go-West-Festival. Die aufgeführten Performances sind Teil eines Gesamtwerks, das sich an große Themen heranwagt: Antisemitismus, Nationalismus, Heimat – was ist das überhaupt?

Weltpolitisches Thema auf familiärer Ebene: Gert (l.) und Ilay den Boer. BILD: Moon Saris/Theaterinbeeld.nl

Weltpolitisches Thema auf familiärer Ebene: Gert (l.) und Ilay den Boer. BILD: Moon Saris/Theaterinbeeld.nl

Eine dunkle Bühne, im Hintergrund eine Art Schrankwand, schwarz gestrichen, einige Türen darin offen. Zwischen ein paar herumliegenden Requisiten – ein hakenkreuzbeschmierter Grabstein, eine halb verbrannte Israelfahne, einige Neonazi-Pappkameraden – steht Ilay den Boer und zwingt seinen Vater, ihm die Worte „fucking dirty jew“ entgegenzubrüllen; er zieht seine Kleider aus und überschüttet sich mit kaltem Wasser. Weil genau das eine Gruppe von Jungen mit ihm gemacht hatte, damals im Winter, als Ilay gerade 14 war. Und weil sein Vater seine Wut und seine Angst nicht verstanden hatte. Die seelische Narbe gibt den Handlungsrahmen für das Bühnenstück vor, die Auseinandersetzung mit dem Jüdischsein das Konzept: Der 26-Jährige den Boer macht sie an seiner Familiengeschichte fest und breitet diese vor dem Publikum aus, manchmal lustig, meist beklemmend; oft emotional und immer anders.

Sechs Teile umfasst den Boers Performance „The Promised Feast“, das „gelobte Festmahl“. Zum Auftakt der Reihe im Jahr 2008 war das wörtlich zu nehmen, als er im Stück „Bon Appetit“ – zu sehen beim “Go West”-Festival des Oldenburgischen Staatstheaters 2010 – seine eigene Bar Mitzwa inszenierte, die Zuschauer mit einem Abendessen inklusive Wein bewirtete und ihnen Rollen zuwies: Die grantelige Großmutter, der trinkfeste Onkel, die Teenie-Cousine. Er sinnierte über seine Jugend, den seltsamen Nichtbezug zu seinen beiden Heimaten; er ließ Gäste aus Briefen seiner Mutter vorlesen und tauschte sich mit ihnen aus, über Politik, Religion, Krieg. Über seine Enttäuschung, als er feststellte, dass sich das Lied, das er zum Motto seiner Bar Mitzwa gemacht hatte, weil er dachte, es würde eine Friedensbotschaft kolportieren, genauso gut von militaristischen Kreisen instrumentalisieren ließ.

Es ist die große Politik im Kleinen, der Nahostkonflikt innerhalb der eigenen Familie, dem der in Jerusalem geborene und in den Niederlanden aufgewachsene den Boer auf die Spur geht. Im zweiten Teil des Zyklus’ nahm er die Zuschauer mit auf eine Busreise – jene Reise, die eigentlich eine Flucht war und die seine Großmutter vom Ghetto in Litauen ins neu gegründete Israel führte. Den Boer versucht in seiner Rolle als Mitreisender nachzuvollziehen, wie aus ihr die hartleibige Zionistin werden konnte, die er kennengelernt hatte. Und als er es tatsächlich zu verstehen begann – ebenso wie ein Teil des eher linksgerichteten Publikums, das „plötzlich Verständnis für hardcore-rechte Positionen aufbrachte“, wie er sagt – drehte den Boers Freundin, die die Großmutter spielte, das Stück kurzerhand um. Sie sagte, dass sie gar nicht in dieses Land wolle, dass dieser Krieg nicht sein Krieg sei, dass sie die Verbindung zwischen israelischen Nationalismus und Auschwitz nicht begreife. Da sei das Publikum schockiert gewesen: War das jetzt nicht antisemitisch, ein bisschen zumindest?

Und ist es nicht ganz zweifellos antisemitisch, einen jüdischen Jungen zu beleidigen und zu schikanieren? Ilay und sein Vater Gert kicken sich auf der Bühne einen Fußball zu; Ilay war in seiner Jugend ein vielversprechendes Torwarttalent. Bis zu dem Eimer Wasser. Danach hörte er auf zu spielen, trotz der Versuche des – nichtjüdischen – Vaters, ihn mit der Erklärung zu beruhigen, die Jungen, die ihn da so erniedrigt hatten, seien keine Antisemiten, nur „shitheads“. Ilay drohe in seiner Wut auf sie genauso zu werden wie jene Leute, die er verachte, wirft er ihm vor, und die so locker und witzig gestartete, aber längst gekippte Performance bleibt an der Frage hängen, wo Antisemitismus beginnt, ohne sie beantworten zu können oder dies auch nur zu wollen.

Es wirkt wie eine schon beinahe schmerzhafte Mischung aus Seelenstriptease und Selbsterfahrung, der sich der junge Theatermacher jedes Jahr ein bisschen mehr hingibt, aber den Boer weiß die Linie zwischen Performance und Privatem sehr genau zu ziehen. Es sei keine Selbsttherapie, die er betreibe; wäre eine solche nötig, würde er sich eher in Behandlung begeben, lacht er: „Ich mache bloß Theater.“ Theater, bei dem den Boer die Zuschauer nahe an sich und seine Familie heranlässt. Es sind Schauspiele, natürlich; aber es sind zugleich authentische Erzählungen, die weitgehend ohne dazuerfundene Elemente auskommen: Die Fotos, die er zeigt, sind echt, ebenso die Briefe, aus denen er vorliest und vorlesen lässt. Gert, der Ilay nach der Szene mit dem Wassereimer auf der Bühne liebevoll abtrocknet und um Verzeihung bittet, ist tatsächlich sein Vater; im fünften Teil, der im Juli Premiere hat, wirkt sein Bruder Anan mit, ein Musiker mit Drogenproblemen in Tel Aviv. Es geht dabei um Eskapismus, über das Weglaufen vor der eigenen Identität, über das die beiden hart aneinandergeraten.

Zwei Teile waren bereits in Oldenburg zu sehen, zuletzt “This is my Father” beim Pazz 2012. Und vielleicht sieht das Oldenburger Publikum den Boer auch bald wieder. Zwar wird es mit dem fünften Teil, der als Open-Air-Veranstaltung konzipiert ist, auf dem kommenden “Go West” im Februar 2014 wohl nichts werden. Dafür aber arbeite das Staatstheater an einer gemeinsamen Produktion mit den Boer, sagt Chefdramaturg Jörg Vorhaben – man sei in “intensiven Kontakt”.

Antisemitismus, Zionismus, Krieg und Nation: Es ist ein großer Brocken, an den sich den Boer heranwagt, und einer, zu dem er keine Auflösung mitliefert, wie denn auch.  Am Ende der in den Niederlanden mehrfach ausgezeichneten Performancereihe soll kein Statement stehen, keine vorgefertigte Botschaft transportiert werden: „Mein einziges Ziel ist, kein Urteil abzugeben“, sagt den Boer. „Ich möchte nur sechs unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen bieten“, auf ein Thema, das sich ohnehin jedem Ausrufezeichen entzieht und das sich aufgrund seiner Emotionalität vielleicht auch nur emotional anfassen lässt, fernab der theoretisierenden Feuilletondebatten um Grass-Gedichte und Sarrazin-Eugenik. „Das Publikum durchschütteln“, wie er sagt: „Das ist die Macht, die das Theater hat.“