Nicht Klickern, sondern Dotzen

Kein Hobby ist zu abwegig, als dass man nicht Meisterschaften darin abhalten könnte. Warum also nicht im Murmelspielen?

Das Runde muss ins Runde. FOTO: mno

Das Runde muss ins Runde. FOTO: mno

Leicht ist sie nicht zu finden, die Murmel-Hochburg des Nordens. Zwischen Emden und Greetsiel, mitten im tiefsten Ostfriesland und nicht ausgeschildert, liegt das 500-Seelen-Dorf Uttum; und sobald man – mehr zufällig – an der Stelle vorbeikommt, an der die vielen Autos parken, hat man sie gefunden, die Uttumer Murmelarena. „Die einzige ihrer Art weltweit“, sagt Willy Schunke, Vorsitzender des SV Jennelt-Uttum 58, kurz „Ju 58“. Der Verein richtete am Wochenende die diesjährige Deutsche Meisterschaft im Murmeln aus – genauer gesagt im „Deutschen Lochspiel“, aber das klingt nicht so schön. Es ist bereits die 17. Meisterschaft, die Ostfriesen sind Titelverteidiger, ihre Gegner kommen aus Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen. Und aus Hatten.

Auf der Bahn steht ein stämmiger, schnauzbärtiger Mann um die 50 und konzentriert sich auf seinen nächsten Wurf. Der eingestickte Name auf seinem Shirt weist ihn als „Thomas“ aus, die Nachnamen interessieren hier niemanden, es geht familiär zu in der Murmelszene. Thomas geht in die Hocke, steht wieder auf, fixiert die Position der Kugeln, geht wieder in die Knie, verlagert das Gewicht, sammelt sich und – stupst die letzte Murmel souverän ins Loch. Punkt für den Klickerverein Södel, seine Teamkameraden jubeln – es geht immerhin um das Erreichen des Halbfinales, und die Partie gegen die Newcomerinnen vom „SV Murmel 011“ aus dem Oldenburger Vorort Hatten ist hart umkämpft. Zwar nehme man „das alles nicht so todernst“, sagt Bernd Schmidt, Chef der Murmeltruppe aus Friesenhagen im Westerwald – aber auch wiederum nicht so locker, dass man nicht doch gerne die Meisterschale mitnehmen möchte. „Silencium!“ herrscht ein Trainer die Umstehenden an, als sich einer seiner Schützlinge an einen besonders schwierigen Wurf auf dem Ascheplatz macht.

Er selbst sehe das Klickern vor allem als Hobby mit Spaßfaktor, sagt Schmidt, für andere ist es genauso sehr Sport wie Billard oder Dart. Manchmal klingt es auch wie Sport und sieht so aus. Wenn etwa Jennifer, wohl so etwas wie die Kapitänin ihrer Hattener Murmeltruppe, sagt, dass sie sich wahnsinnig darüber freue, das Viertelfinale erreicht zu haben, obwohl sie bestenfalls auf das Überstehen der Vorrunde gehofft hatte. Oder wenn eine kleine La-Ola-Welle durch das Stadiönchen schwappt. Es wird übrigens tatsächlich trainiert, wenn auch bei den meisten Vereinen nur einmal im Monat. Und auch optisch kommt das Murmelspiel sportlich daher: Die meisten Teams tragen einheitliche Leibchen, bedruckte T- oder Poloshirts, die Damen aus dem Oldenburgischen sogar richtige Trikots mit Nummern. Die Teamkameraden feuern sich gegenseitig an und haben eigene Schlachtrufe; sie jubeln, wenn ein entscheidender Wurf gelingt und ächzen, wenn ein einfacher danebengeht. Und fast alle tragen Turnschuhe, obwohl man diesen Sport problemlos auch mit Gummistiefeln ausüben könnte.

Fi-na-le! O-ho! Nun gut: Viertelfinale. Trotzdem Grund zur Freude bei den Oldenburgerinnen. FOTO: mno

Fi-na-le! O-ho! Nun gut: Viertelfinale. Trotzdem Grund zur Freude bei den Oldenburgerinnen. FOTO: mno

Es werden, kaum verwunderlich, offizielle Wettkampfmurmeln mit genau bezifferten Maßen und Gewichten verwendet – so etwas hat hierzulande schließlich seine Ordnung, und festgelegt ist diese im Regelwerk des Deutschen Murmelrats. Das Spiel selbst ist eigentlich recht einfach: Zwei Spieler versuchen, sechs Murmeln durch Einlochen oder Aneinanderklickern – Fachbegriff: „Dotzen“ – aus dem Spiel zu nehmen; wer die letzte versenkt, bekommt den Punkt. Die Viererteams treffen nach dem Prinzip „Jeder gegen jeden“ aufeinander, das macht pro Partie bis zu 16 Einzelbegegnungen mit ebenso vielen zu vergebenen Punkten. Klingt zeitraubend, aber viele Matches dauern nicht allzu lange; mitunter wartet man länger auf sein Bier als auf den Ausgang eines Duells. Erst in der K.O.-Runde nehmen sich die Kontrahenten mehr Zeit, blicken stirnrunzelnd auf die Verteilung der Glaskügelchen, trampeln den Sand in der Schusslinie fest und sinnieren über die klügste taktische Vorgehensweise: Welche Murmel als nächste? Und: Einlochen oder Dotzen?

Eigentlich war Uttum, das bereits 2009 Gastgeber der Deutschen Meisterschaft war, noch gar nicht wieder an der Reihe mit deren Ausrichtung – der Verein sei aber von den Mitmurmlern darum gebeten worden, weil es sich so schön mit einem Urlaub an der Nordseeküste verbinden ließe, sagt Schunke. Tatsächlich weist die Teilnehmerschaft eine ähnliche Zusammensetzung auf wie die durchschnittliche Belegschaft eines ostfriesischen Dauercampingplatzes; trotz einiger jugendlicher Teilnehmer ist das Durchschnittsalter eher bei Mitte 40 anzusetzen. Alters- oder Geschlechterabgrenzungen gibt es nicht, sie wären beim Murmeln wohl auch ein bisschen albern. Ab sieben Jahren kann mitgespielt werden, Uttums älteste Aktive ist gerade 80 geworden, sagt Schunke.

Zum Murmeln kamen die Spieler auf eher zufälligen Wegen – die einen fühlten sich allmählich zu alt für Fußball, wollten aber trotzdem etwas zusammen machen. Das Oldenburger Frauenteam, nach Uttum und dessen Lokalrivalen Hinte mittlerweile der dritte norddeutsche Verein, hatte sich aus einem Scherz heraus während eines Türkeiurlaubs gebildet. Die Frauentruppe sei von Miturlaubern immer für einen Sportverein gehalten worden, irgendwann habe jemand gefragt, ob sie der “SV Murmel” seien, berichtet Jennifer. Noch während dieses Urlaubs wurden sie es. Und Schunke hatte einen Fernsehbericht übers Wettkampfmurmeln gesehen und dies im „Ju 58“ vorgeschlagen: „Da bin ich erst ausgelacht worden“, sagt der Vorsitzende, der auch das Uttumer Badewannenrennen eingeführt hat, „aber trotzdem wurde im Ort darüber gesprochen“. Erst an den Stamm- und Abendbrottischen, dann auch wieder im Verein.

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Blick aus der Südkurve ins weite Stadionrund. FOTO: mno

Am Anfang seien es fünf, sechs Murmelspieler gewesen, sagt Schunke, dann irgendwann 20, eine zweite Bahn wurde gebaut, dann eine dritte, später ein paar Holzkästen, damit die zahlreicher werdenden Zuschauer auch aus der zweiten Reihe etwas sehen können. Heute hat die Murmelabteilung 55 Mitglieder, ein eigenes kleines Stadion und wurde 2011, fünf Jahre nach ihrer Gründung, erstmals Deutscher Meister – was macht es da, dass sie sich am Samstag im Finale den Södelern mit 7:9 geschlagen geben musste. Der Klickersport verbinde die Dörfler, meint Schunke; und auch die Gemeinde Krummhörn freut’s, nicht zuletzt wegen des touristischen Effekts. Die Murmelarena ist so etwas wie eine regionale Berühmtheit; Firmen und sogar Abschlussklassen buchen sich die drei Bahnen Wochen im Voraus. Klickern statt Kegeln.

Rund 120 Freunde des runden Glaskörpers tummeln sich am Tag der Meisterschaft an der Arena, die sogar über eigenes Flutlicht verfügt. Die meisten sind Spieler der 18 angetretenen Mannschaften aus sieben Vereinen, aber auch ein paar Zuschauer aus dem Dorf und Familienangehörige sind dabei. Es gibt Bratwurst und Bier, aus der Musikanlage tönt in Dauerschleife ein Partysampler, am Vereinsheim hängen Deutschlandfahnen, farblich passend zum Logo des „Ju 58“. Im Pavillonzelt verstreut sitzen einige Murmelspieler, die bereits dabei sind, zum eher lässigeren Teil des Turniers überzugehen. Die Friesenhagener aus dem Westerwald zum Beispiel, auch schon zweimal Meister, das ist aber schon zehn Jahre her. Diesmal kam für das Team das Aus im Achtelfinale – „War geplant“, sagt Teamchef Bernd: „Dann können wir uns früher an die Vorbereitung des nächsten Turniers machen.“ Friesenhagen richtet die Meisterschaft im kommenden Jahr aus.

Die Uttumer denken bereits weiter: Schunke möchte gerne eine EM auf die Beine stellen, eine richtige, nicht so etwas wie vor ein paar Jahren in Ludwigshafen, als dort lebende Migranten für ihr Heimatland antraten und das Ganze „WM“ genannt wurde. „Wir werden oft belächelt, aber damit macht man sich dann endgültig zum Horst“, sagt Schunke. Statt dessen wollen sie Kontakt zu anderen Murmeltruppen in Skandinavien, England, den Niederlanden aufnehmen: „Da wird überall geklickert.“ Natürlich fielen dann weitaus üppigere Reisekosten an, räumt er ein – aber Urlaub lässt sich ja schließlich auch in Dänemark machen.