Rumta, rumta, tschingderassabummpängpäng
17 Jahre in Oldenburg und noch nie dem Kramermarktumzug beigewohnt: Das sollte sich in diesem Jahr ändern, zumal eine Einladung auf die Ehrentribüne sicherstellte, dass dieses Event auf die bequemste Art – nämlich sitzend – erlebt werden konnte. Da die Witterungs- und andere Umstände einen Liveticker ausschlossen, erfinden wir einfach ein neues Format: Den After-Show-Ticker, geschrieben am nächsten Tag. Der wesentliche Unterschied: Man liest ihn von oben nach unten.
14:15 Die “fünfte Jahreszeit” beginnt in Oldenburg wie die anderen vier, nämlich mit einem Regenguss; aber die Plätze auf der Ehrentribüne sind trocken, da sie im Vorfeld von einer vorausschauenden Person mit frischen Mülltüten bezogen worden sind. Wir nehmen das offizielle Kramermarktumzugs-Schnapskrüglein entgegen, hängen es uns um den Hals und warten ab, ob sich irgendjemand berufen fühlt, dort auch etwas hineinzugießen.
14:30 Der Umzug ist im Zeitplan, der Graf – also der aus Fleisch und Blut, muss man in diesen Zeiten wohl dazu sagen – biegt pünktlich um die Ecke und winkt mit majestätischer Miene dem ungewaschenen Volk zu. Sein Gaul scheint beim Friseur gewesen zu sein. Moderator Horst Hullmann zeigt sich wenig untertänig und bittet den Grafen, jetzt “mal Fahrt aufzunehmen”, er hält nämlich den ganzen Verkehr auf. Hinter ihm folgt die Kutsche, aus der neben OB Gerd Schwandner weitere Leute aussteigen, deren Rolle der Moderator so umschreibt: “Ehrengäste zum Thema Integration – was das ist, habe ich eben schon erklärt.” Gut so, kann man wohl nicht oft genug erklären, was das eigentlich ist, diese “Integration”, von der jetzt alle sprechen.
14:35 Die ersten Festwagen nähern sich, und das Kamelle-Gewerfe geht los. Die Teilnehmer der Parade lassen Jubelrufe los, die Tribünengäste antworten mit “Aua, aua, aua!” – vor allem die Karamellbrocken von Turm Sahne sind geeignet, größere Verletzungen hervorzurufen. Ein paar kostümierte Menschen paradieren vorbei, einer trägt eine wahnsinnig schnieke Uniform – es müssen die Village People sein. Ein zweiter Blick zeigt aber, dass kein Bauarbeiter, kein Indianer und kein Lederheini dabei sind. Es handelt sich doch eher um Darsteller der August-Hinrichs-Bühne. Naja, das erspart uns einmal “YMCA”-Gedröhne.
14:39 Die Kunstschule Klex mit einem hochpolitischen Kommentar zur aktuellen Lage der Weltwirtschaft: Eine Heuschrecke. Hinter ihnen der erste von zahlreichen Spielmannszügen – wohl eines der deutschesten Wörter überhaupt, wenn man den Autoren dieses Artikels fragt. Noch schöner ist allerdings das tragischerweise vom Aussterben bedrohte “Bundeskegelbahn”.
14:46 Eine Gruppe Mädels von der Tanzschule Leonhard, die in Formation und synchron tanzt. Sieht ein bisschen nach Bollywood aus. Allerdings ohne Saris, ohne Shah Rukh Khan und mit anderer Musik; hinter ihnen tuckert ein US-Schulbus heran, aus dem eine Art HipHop-Techno-Dancefloor-Medley dröhnt.
14:48 Es folgen leisere Töne. Der Vereinigung der Freizeitreiter sind die Pferde ausgegangen, weshalb sie einen Holzzossen auf Rädern mit sich führen. Guter Einsatz, man muss auch ohne Gaul am Ball bleiben, denn Reiter werden ja immer gebraucht. Das Fahrradhaus Munderloh wartet mit ein paar historischen Rädern und einem schlechtgelaunten Clown auf, der wild hupend hin- und herradelt. Die ersten Coulrophobie-Opfer lassen ihre Süßkramsammeltaschen fallen und rennen weinend nach Hause, ihre zurückgelassene Beute wird zwischen den anderen Kindern aufgeteilt.
14:50 Die Oldenburger Apotheker fahren auf einer Art Riesentandemraupe vorbei. Statt Kamelle werfen sie Feelgood-Tabletten, Hallowach-Kapseln und sonstige bunten Pillen ins Publikum. Der Ruf nach “einmal Paracetamol, bitte” verhallt allerdings ungehört. Und die Pillen erweisen sich nach näherer Untersuchung doch bloß als stinknormale Bonbons.
14:55 Es folgen weitere Spielmannszüge, Schützenvereine und Tanztruppen, bevor der Wagen des Gaststättenverbandes Dehoga anrollt. Dessen Besatzung besinnt sich auf Kernkompetenzen und verteilt Bier an der Tribüne. Endlich, möchte man sagen. Ob das gemeine Volk auch etwas abbekommen hat, wissen wir nicht.
15:00 Die erste Cheerleader-Gruppe läuft auf, die “Bright Delights”. Ihnen auf den Fersen der Cheerleader-Nachwuchs namens “Sweet Delights”. Während sie cheerleaden, was das Zeug hält, versuchen wir zu ermitteln, wo genau eigentlich Borbeck liegt. Die Mitglieder des dortigen Heimat- und Ortsbürgervereins haben nämlich für eine nette Abwechslung gesorgt, indem sie statt Kamelle mit Blumen um sich warfen. Es folgt eine Folge der Reihe “Dazulernen mit dem Oldenburger Lokalteil”: Es gibt nicht weniger als vier Borbecks, von denen wir wissen; aber drei davon liegen in Nordrhein-Westfalen, zählen also eigentlich nicht. Das vierte gehört zu Wiefelstede. Hätten wir das also auch geklärt.
15:03 Die Artistiktruppe “New Power Generation” macht ein paar spektakuläre Einlagen. Trotzdem sehen sie, die Bemerkung sei uns verziehen, durch die Ganzkörperanzüge, die nur Öffnungen für die Augen freilassen, ein wenig aus wie Terroristenzebras, die mit Spiderman gekreuzt wurden. Der Shantychor Benthullen tuckert in einem Boot namens “Rote Angie” vorbei, und der Moderator betont, dass das “keine politische Botschaft” sein soll. Ach was.
15:06 Die Mitglieder des Kleingärtnervereins Eversten-Bloherfelde werfen Gemüse ins Publikum – Zucchini, Chinakohl, Rucola, Broccoli.
15:07 Nein, tun sie nicht. Wäre aber schön gewesen, da der Autor es vor dem Umzug nicht mehr zum Markt geschafft hat und ihm der Sinn nach genau den geschilderten Nahrungsmitteln steht. Mitlesende Kleingärtner aufgemerkt: Vielleicht als Vorschlag fürs nächste Jahr im Hinterkopf behalten?
15:10 Noch ein Spielmannszug, den wir ausnahmsweise namentlich hervorheben wollen: Es ist der aus Seefeld, der uns gleich mal sympathisch ist, weil er – zumindest zu diesem Zeitpunkt, für andere Abschnitte des Umzugs können wir nicht sprechen – keinen Radetzkymarsch spielt, sondern die Melodie von Tetris.
15:14 Mehrere Handwerkerwagen fahren vorbei, bemannt mit muskulösen Kerlen, die die Bonbons nicht werfen, sondern geradezu ins Publikum pfeffern. Da die meisten Leute damit beschäftigt sind, sich wegzuducken, erhält der hübsche Wagen der Handwerkskammer – bestückt mit einem Globus und lauter Windrädern – eher wenig Aufmerksamkeit. Als wir wieder hochgucken, sehen wir den Wagen der Wirtschaftsjunioren, aus dem Billy Idols “Rebel Yell” dröhnt. Nachwuchs-BWLer sind unbezähmbar wilde Abenteuertypen.
15:16 Ein paar Elfen ziehen vorbei, aber da es gleichzeitig zu regnen beginnt und alle auf der Tribüne damit beschäftigt sind, die zu Beginn verteilten Plastikcapes auszupacken und überzuziehen, sieht niemand, dass hinter den Elfen Hobbits, Zwerge und Orks herlaufen. Warum wir hier so einen Quatsch reinschreiben? Weil wir unsere Klickzahl mit lauter Kommentaren von Fantasy-Nerds hochschrauben wollen, die uns darüber aufklären, dass es dann “Elben” heißen müsste, das wisse doch jeder und wer so was Blödes schreibe, solle sich doch einen anderen Beruf suchen und überhaupt.
15:18 Auch die Crew des Weser-Ems-Hallen-Festwagens verteilt Freibier. Vielleicht, damit man sich die nicht unumstrittenen Kosten des Neubaus schöntrinken kann. Die Westernfans der “City Longhorns” schießen scharf ins Publikum, aber nach dreiviertelstündigen Dauerbombardement mit Bonschen sind wir mittlerweile geübt im Wegducken, es gibt keine Verwundeten. Obwohl das Ausweichen noch schwieriger geworden ist, da man nun mit einer Hand den Bierbecher schützen muss.
15:23 Der Oldtimer-Trecker-Club hat seinen Wagen unter das Motto “70er Jahre” gestellt. Abgesehen von den Pril-Blumen ist der optische Eindruck aber in etwa genauso 70er-mäßig wie die ziemlich doofe TV-Serie “Die wilden Siebziger”, also eigentlich gar nicht. Naja, aber schön bunt. Die Eventagentur Zange feuert ihre Konfettikanone ab. Sieht wirklich schön aus! Leider ist nun Konfetti im Bier.
15:28 Der Heimatverein Hatterwüsting kommt mit vier Wagen – und Schnaps. Man fragte sich ja schon, wozu das umgehängte Krüglein eigentlich gut ist. Da die Farbe des Schlucks aber quietschorange ist, verzichten wir dankend und halten lieber die Bauernregel von einem der Wagen fest: “Wenn im Herbst die Sonnenblume lacht, wird die Ernte eingebracht.” Wir hätten da auch noch einen: “Kotzt der Bauer über’n Trecker, war die Brotzeit nicht sehr lecker.”
15:32 Wir sind verwirrt: Ein Spielmannszug aus Greven. Das liegt doch im Ausland. Dürfen die das? Also, an einer uroldenburgischen Institution teilhaben? Und wo wir gerade beim Fragestellen sind und die Linedancer von “Lucky Boots” vorbei-linedancen und von den “Jolly Jumpers” gefolgt werden: Wieviele Westernfans und -vereine gibt es eigentlich in Oldenburg?
15:35 Die nun vorbeifahrenden Jagdhornbläser haben die silberne Hornfesselspange bei der niedersächsischen Bläsermeisterschaft gewonnen, klärt uns der Moderator auf. Das klingt wie reine Poesie, weshalb wir ein bisschen nachrecherchieren. Da wir aber schnell auf Sätze wie “In der Klasse G für Fürst-Pless-Hörner und Parforcehörner dominierten ebenfalls die Jagdhornbläser aus Hameln-Pyrmont” stoßen und dem ganzen Jagdgedöns ohnehin eher fernstehen, lassen wir es wieder bleiben. Auch, weil wir schon wieder in Deckung gehen müssen: Der Dartverein “Red Dragons” nähert sich.
15:40 Die “Interessengemeinschaft amerikanischer Fahrzeuge” fährt vorbei, angeführt von einem klassischen Straßenkreuzer in, wie es sich gehört, türkiser Farbgebung. Etwas enttäuschend ist, dass der Rest der Abteilung aus diesen spritfressenden und immer gleich zwei Parkplätze belegenden SUV-Pickup-Monstrositäten besteht.
15:46 Wieder eine Cheerleadertruppe, und nun fragen wir uns, wieviel es denn davon nun wieder gibt. Ein unvorsichtigerweise probiertes Erdbeerkaubonbon zieht dem Autor mehrere Plomben heraus, es gelingt aber, selbige mit gezieltem Einsatz von Turm-Sahne-Karamell wieder festzukleben. Der Klootschießer- und Boßelerverein Leuchtenburg passiert die Tribüne, verzichtet aber darauf, auf der Straßburger Straße zu boßeln. Schade.
15:48 Es gibt zwei Kategorien von Kamellewerfern: Die, die ihre Bonbons in einer sanften, von unten kommenden Bewegung in die Luft werfen und jene, die sie nach Art eines Baseball-Pitchers in die Menge braten. Unsere Theorie, dass es sich bei letzteren um Leute handelt, die schlecht gelaunt sind, weil sie zum Dienst auf dem Umzugswagen verdonnert wurden, lässt sich aber nicht halten – es sind zu viele, und sie lächeln. Vielleicht freuen sie sich auch nur über besonders gelungene Treffer. Wir haben ein paar Stimmen von der Tribüne gesammelt, die wir wörtlich zitieren: “Autsch!” “Aua!” “Uff!” “Scheiße!” So, und jetzt haben wir auch dieses Wort einmal in einem Artikel verwendet. Wollten wir schon immer machen.
15:52 Die Leutchen vom VfB verteilen Eis, die Footballer von den “Fighting Knights” haben noch mehr Cheerleader dabei und die Gospelsänger von “Sound & Joy” singen in einem größtenteils geschlossenen Waggon, weshalb nur hier und da ein gedämpftes “Halleluja” zu hören ist.
15:58 Der Umzug dauert nun schon ziemlich lang, beinahe eineinhalb Stunden, und die Stimmung kippt langsam. Sogar auf der Straße, mitten unter den Teilnehmern, brechen in diesem Moment offene Prügeleien… ach nein, es sind bloß die “Mitglieder des Vereins für traditionellen Budosport”.
16:00 Kurz darauf kommen die Mitglieder des 1. Oldenburger Gothicvereins vorbei. Nein, doch nicht – es sind Musicaldarsteller von der “Stage Academy” in ihren Kostümen aus der Dracula-Aufführung. Hätte man auch gleich merken können, dass es keine richtigen Gothics sind – sie stinken nicht meilenweit nach Patchouli.
16:05 Obwohl hier Gruppen dabei sind, die sich auf Schildern selbst als “Spaßmacher” oder “lustig” bezeichnen, attestieren wir den Mitgliedern des Gehörlosenvereins mehr Humor als allen anderen zusammen: Sie treten als Pantomimen auf.
16:10 Die Johanniter werben mit ihrem 60. Geburtstag. Hm, warum nicht mit ihrem 913.? Naja, ist wohl zu lange her. Überhaupt sind dieses Jahr offensichtlich, wenn’s schon Geschichte sein muss, eher die 70er in, denn auch die Handballerinnen des SVO haben ihren Wagen und ihre Kostüme der Hippieära angepasst. Apropos “angepasst”, kleiner Hinweis: Bunte Sonnenbrillen, Stirnbänder und psychedelische Muster sind ein guter Ansatz, aber wenn alle exakt dieselben Klamotten anhaben, ist es doch wieder mehr Uniform- als Hippiegeist.
16:12 Spielmannszüge, Sportvereine, Tanztruppen. Man möge uns nachsehen, dass wir nicht alle einzeln aufführen können. “Wer zählt die Gruppen, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen”, fragte schließlich schon der bekannte Oldenburger Heimatdichter Friedrich Schiller.
16:20 Wir nähern uns der Zwei-Stunden-Marke, und längst hat sich das Gefühl breitgemacht, dass der Umzug jetzt bald auch gerne mal sein Ende finden darf. Ein Trupp Manga-Figuren schlendert vorbei. Die Schwulen und Lesben dahinter hauen ihre Kamelle mit vollen Händen raus. Ein Weihnachtsmann mit Rentieren fährt an der Tribüne entlang, ist ja auch schon Ende September. Und dann kommt der Turm-Sahne-Bus, alle Zuschauer bringen sich, so gut es geht, hinter ihren Vorderleuten in Sicherheit – die Teilnehmer lassen aber Gnade walten und verteilen ihre Karamellmunition, statt mit gezielten Würfen den überlebenden Zuschauern den Rest zu geben.
16:25 Kurz vor Ende trifft Ministerpräsident David McAllister ein und wird begrüßt wie ein König. Da er aber keiner ist, sondern gewählt werden muss, um die Krone das Amt zu behalten, und weil wir Tag 112 vor der Landtagswahl schreiben, richtet er eine ungewöhnlich anbiedernde Ansprache an das Volk: Oldenburg, so der CDU-Politiker, sei in den nächsten Tagen “die heimliche Landeshauptstadt”. Na, das hört man hier gerne. Ist man doch ohnehin auch den Rest des Jahres davon überzeugt.
16:28 Der Umzug ist vorbei, bald beginnt das Eisbein-Gelage in der Weser-Ems-Halle. Das ist eine andere Geschichte, von der wir an dieser Stelle nur berichten wollen, dass Schwander die anwesenden Fußballjunkies vom Zwischenstand beim Bundesliga-Spieltag in Kenntnis setzte (“Wiesenhof Bremen gegen Bayern München 0:0″) und der Vertreter aus der Partnerstadt Kingston-upon-Thames, Derek Osbourne, in einer brillianten Rede McAllister zu einem Bootsrennen in England herausforderte – er hatte die Presseberichte über den nass geendeten Ausflug des Ministerpräsidenten auf dem Zwischenahner Meer gelesen. Über den Rest des Abends hüllen wir uns in vornehmes Schweigen.