Die Jungresolutionäre

Jährlich treffen sich in Oldenburg Hunderte Schüler zur Olmun, einer selbstorganisierten Simulation der Vereinten Nationen, und befassen sich mit den verschlungenen Wegen multilateraler Diplomatie. Eine Stippvisite beim Weltsicherheitsrat.

Einmal USA sein. Bild: M. Nolte

Einmal USA sein. Bild: M. Nolte

Die Delegierten von Israel und Iran verstehen sich offensichtlich gar nicht so schlecht, Hilke Hochheiden und Julius Henckel lachen und scherzen, während sie sich abseits des Sitzungssaals im Alten Rathaus mit mir unterhalten. Es ist „Lobby Time“, die Sitzung unterbrochen; die Delegierten schlendern durch den Raum, reden abseits des Protokolls informell miteinander, bringen vielleicht den einen oder anderen Kuhhandel unter Dach und Fach oder drohen sich gegenseitig Luftschläge an: Willkommen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – in der Variante der Oldenburg Model United Nations, kurz Olmun.

Politikstunden in Schlips und Kragen

Es ist für Außenstehende nicht schwer zu erkennen, dass die jährliche Olmun-Zeit angebrochen ist: Eine Woche lang bietet sich den rund 700 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, auch mal zwischen Konfirmation und Abifeier Anzug, Schlips oder Kostüm zu tragen und so die Innenstadt zu bevölkern. Ein… nun ja, gewöhnungsbedürftiger Anblick; in Kombination mit englischsprachigen Pressemitteilungen, unterzeichnet vom „Secretary General“ oder „Chief of Public Relations“ beschleicht einen mitunter das Gefühl, hier die nächsten Christian Lindners oder Philipp Mißfelders vor sich zu sehen. Ein Gefühl, das dankenswerterweise schnell wieder verfliegt: Die Teilnehmer nehmen ihr Projekt ernst, aber auch nicht zu ernst.

Dabei ist es nicht gerade der einfachste Themenkomplex, den sich die jungen Leute für ihre Version einer Sitzung des Weltsicherheitsrats ausgesucht haben: „Situation in the Middle East“. Vormittags ging es um den Zugang zum Gazastreifen, nachmittags sollte die Eindämmung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen auf dem Programm stehen. Debattiert wird ausschließlich auf Englisch, die Geschäftsordnung des realen Rats weitestgehend eingehalten. Die Zusammensetzung des Gremiums entspricht dem aktuellen Stand; Israel und der Iran gehören zwar nicht dazu, sind aber eingeladen worden, weil sie vom Thema in besonderem Maße betroffen seien.

Auch mal Schurke sein

Sie wollte unbedingt einen sogenannten „Schurkenstaat“ repräsentieren, sagt Hochheiden und lacht: „Mal gegen alles sein, und alle anderen hassen einen.“ Das bekomme sie im Rat durchaus zu spüren, etwa wenn sie sich dauernd den Vorwurf des Terrorismus ausgesetzt sieht. Es gebe immer mehrere Sichtweisen, so ihr Fazit, und die der islamischen Welt komme wohl tatsächlich oft zu kurz. Henckel als Vertreter Israels wiederum muss sich unzufrieden mit der gerade verabschiedeten Resolution, in der die Öffnung der Grenzen zum Gazastreifen gefordert wird, und dem Verhalten der westlichen Verbündeten zeigen, die diese Resolution unterstützt haben. „In Wirklichkeit“, sagt Henckel, „wäre die Abstimmung wohl ohnehin anders verlaufen.“

Die Lobby Time ist um, die Delegierten nehmen hinter ihren Fähnchen Platz, der nächste Tagesordnungspunkt steht auf dem Programm: Der französische Vertreter stellt einen Entwurf für eine Resolution zur Rüstungskontrolle im Nahen und Mittleren Osten vor, kommt aber nicht besonders weit: Mitten in seine Rede platzt die Meldung, dass ein israelisches U-Boot vor der iranischen Küste gesichtet worden sei. Helle Aufregung, Fragen werden an die leicht überrumpelt wirkenden diplomatischen Vertreter beider Länder gestellt, das übliche und aus der realen Welt bekannte Gerangel mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, militärischen Drohungen und dem Widerwillen, als erster zurückzustecken, beginnt.

Kameraden – das erfordert eine sofortige Resolution!

Als wäre die Verwirrung nicht schon groß genug – Wer hat den Einsatzbefehl gegeben? Wie ist das Boot bewaffnet? – taucht ein weiterer Olmun-Teilnehmer auf, stellt sich als israelischer Abgesandter (mit dem für Heiterkeit sorgenden Vornamen Achmed) vor und droht angesichts des iranischen Nuklearprogramms mit Militäreinsatz. Nun geht es erst richtig rund, und obwohl der Vorfall weit hergeholt ist und die ausgetauschten Argumente bestenfalls an der Oberfläche des komplexen Themas kratzen, zeigt sich in Grundzügen die Funktionsweise und auch die Schwerfälligkeit des Gremiums. Eine neue Resolution muss her, egal, ob sie etwas bewirkt oder nicht, etwas anderes lässt sich ad hoc ja ohnehin nicht machen. Die Debatte um die Formulierung zieht sich enorm in die Länge, nahezu jeder Unterpunkt wird von irgendwem kritisiert und die Schülerinnen und Schüler ziehen es durch; ungeachtet der Tatsache, dass sie schon seit neun Stunden da sitzen und konferieren.

Das Geschacher um gewünschte und unerwünschte Formulierungen bekommen die Teilnehmer also zur Genüge mit, ebenso die strengen Regeln der Institution, was die Redebeiträge angeht. Und Geheimabsprachen, Hintertürtreffen, Kurzzeitbündnisse? Die klassische Veto-Diplomatie der fünf offiziellen Atommächte, die oft genug von nackter Erpressung nicht zu unterscheiden ist? Lässt sich das alles überhaupt auch nur ansatzweise nachvollziehen?

Ja, sagt Keno Franke, Chairman des Sicherheitsrats, wenngleich auch nicht „ganz so krass wie in der Realität“. Schon vormittags habe etwa der britische Delegierte mehrfach mit einem Veto gedroht, um bestimmte Passagen aus der Resolution zu werfen. Und auch die „Lobby Time“ zwischen den Sitzungen gebe den Teilnehmern eine zumindest grundlegende Vorstellung davon, wie Absprachen getroffen werden und wie man verhandeln muss, um es den „Big Five“ – den Vetomächten USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich, China und die Russische Föderation – recht zu machen.

Erste unter nicht Gleichen

Überhaupt, die Großmächte. In der U-Boot-Debatte haben deren Delegierte den weitaus größten Redeanteil. Es mag vielleicht sein, dass diese Olmun-Teilnehmer ohnehin zu jenen Schülern gehören, die auch im normalen Unterricht öfter etwas beitragen als andere; in ihrer Simulation des Sicherheitsrats zeigt sich dadurch dennoch recht deutlich, wer – man verzeihe das Wortspiel – dort das Sagen hat, nämlich die mit den Atomraketen und dem Geld. Ohne die Großmächte fällt keine Entscheidung, da mögen die Vertreter Indiens, Portugals oder Bosniens mit noch so gutem Willen ihre Vorschläge einbringen. Und zumindest da ist die Olmun vermutlich nicht weit von der Realität entfernt. „Es geht ja auch darum, etwas über die Schwächen der UN zu lernen“, sagt Franke, und Julius Henckel ergänzt: „Man merkt, dass unter diesen Umständen eine konstruktive Lösung oftmals nicht möglich ist.“

Während der Autor dieses Artikels seinen Besuch nach drei Stunden beendet, sind die höchst engagierten Schüler immer noch dabei, erbittert um die Formulierung einer Resolution zu diesem Vorfall zu debattieren. Eine Verurteilung Israels für die militärische Provokation scheitert am Veto einer Großmacht – das ist durchaus realistisch. Dass es sich dabei um Frankreich handelt, wohl weniger; aber es geht ja auch nicht darum, einfach nur den wirklichen Sicherheitsrat nachzuspielen, sondern einen – wenn auch kleinen – Einblick in dessen Entscheidungswege zu bekommen.

Und das allerwichtigste, sagen Henckel und Hochheider, sei auch gar nicht das Debattieren, sondern der Kontakt zu den Teilnehmern aus anderen Ländern. Die kommen aus 15 Nationen, sagt Generalsekretärin Carla Henckel, „die meisten aus Europa, aber zum Beispiel auch einige aus den USA“. Auch dies dürfte dazu beitragen, den eigenen Horizont zu erweitern und mehr Verständnis für andere Standpunkte zu erlangen. Und wenn man, nachdem man sich soeben noch atomare Vernichtung angedroht hat, die Krise anschließend bei einem Bierchen in der Innenstadtkneipe beilegen kann, ist das ja auch etwas Schönes. Wenn es doch nur in der Realität so einfach wäre.