Der Artikel, die Wut und der sehr große Irrtum

Es ist schön, wenn sich Menschen auflehnen, weil sie ein Grundrecht oder eine Freiheit gefährdet sehen. Noch schöner wäre es allerdings, wenn sie das vor allem in jenen Fällen tun würden, in denen eine solche Gefahr auch tatsächlich besteht. Oder sie zumindest wüssten, wovon sie da eigentlich reden.

Da stopft der Springer-Verlag 40 Millionen Exemplare ihres in vielerlei Hinsicht zu kritisierenden Hauptpresseerzeugnisses in bundesdeutsche Briefkästen, ungefragt und von vielen auch unerwünscht. Einige haben der Zustellung widersprochen, die “Bild” aber trotzdem bekommen; und von diesen Personen hat einer die Gratisausgabe an einen öffentlichen Ort getragen und dort verbrannt. Ein Kollege hat im von mir mitherausgegebenen Magazin “Oldenburger Lokalteil” darüber berichtet – und wird nun mit Vorwürfen, Anschuldigungen und Unterstellungen zugemüllt. Bei allem Zugutehalten der in den meisten Fällen sicher gut gemeinten Intention ist es indes erstaunlich, wie wenig stichhaltig und manchmal geradezu absurd die Kritik von einigen Kommentatoren ist; und es stimmt bedenklich, auf welch schiefe Weise sie sie historisch zu unterfüttern suchen. Zeit für eine Grundsatzrede, denn hier geht es um mehr als nur um einen Artikel. Es geht um eine Geisteshaltung, die um so gefährlicher ist, als sich die betreffenden Personen ihrer gar nicht bewusst zu sein scheinen.

Brennende Presseerzeugnisse – klar, da denkt man quasi automatisch an den 10. Mai 1933, die große Bücherverbrennung der Nationalsozialisten. Das geht übers Rückenmark, und das ist auch gut so – es zeugt von einer tiefgehenden Sensibilisierung für das Thema innerhalb der Gesellschaft. Dennoch bleibt es eine Reflexhandlung, und die wird nicht richtiger, bloß weil man sich selbst auf der Seite der Guten sieht. Denn eine direkte Linie zwischen der Bücherverbrennung der Nazis und dem Abfackeln einer Bildzeitung durch eine Privatperson ist vor allem eines: Geschichtsvergessener – tschuldigung – Unfug, der in seinen blödesten Auswüchsen gar geeignet ist, den NS-Terror zu verharmlosen.

Wenn man den Vergleich trotzdem anstellen würde, wäre festzuhalten, dass wir auf der einen – der historischen – Seite ein Gewaltregime mit Totalitätsanspruch haben, das zum Zeitpunkt der Bücherverbrennung diesen zwar noch nicht ganz hatte durchsetzen können, aber längst mit der Unterdrückung politisch Andersdenkender begonnen hatte. Die Schriftsteller, deren Werke verbrennt wurden, waren der willkürlichen Verfolgung durch die Staatsmacht ausgesetzt; Ossietzky wurde so sehr misshandelt, dass er an den Folgen starb, Tucholsky in den Freitod getrieben, Mühsam im KZ ermordet – es ist eine lange, sehr lange Liste. Die Bücherverbrennung war ein Fanal der Terrorherrschaft eines zu allem bereiten und einer wahnhaften Ideologie verpflichteten Regimes.

Auf der anderen, aktuellen Seite haben wir einen ganz normalen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der die Bild-Zeitung offensichtlich widerlich findet und der Zustellung des Gratis-Exemplars daher auch im Vorfeld widersprochen hatte. Dennoch fand er neben dem Brief auch die Zeitung im Briefkasten. Er nahm das Blatt, das somit in seinen Besitz übergegangen war, steckte ein Feuerzeug ein, ging zum Hafen und fackelte sie – also einen ihm gehörenden Gegenstand – ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nun zu Folter, Massenmord und Weltkrieg übergeht, schätze ich als gering ein. Wie gesagt: Es handelt sich um eine Privatperson. Nicht um einen Staat. Einem Staat stehen alle Machtmittel zur Verfügung, die er einzusetzen gedenkt. Einer Privatperson so gut wie gar keine. Das ist der wesentliche Unterschied, und den überhaupt noch lange erklären zu müssen, weil sich irgendwer dessen offensichtlich nicht bewusst ist, finde ich erschreckend. Man verzeihe mir den Anflug von Plakativität, aber: Wer das miteinander vergleicht, spuckt auf die Gräber der Ermordeten.

Daneben tritt das Scheinargument, dass, wer Zeitungen anzünde, das letztlich auch mit Büchern tun würde. Ich gehe davon aus, dass von den 40 Millionen verteilten Exemplaren zumindest mehrere hunderttausend dem Feuer zum Opfer gefallen sind oder das noch tun werden – als Grillanzünder, um den Kamin in Gang zu setzen oder den Kachelofen anzuwerfen. Bedeutet das jetzt, dass es hunderttausende Protofaschisten im Land gibt? Oder wird man erst dann zum Nazi, wenn man es in der Öffentlichkeit tut? Oder man die Zündelei fotografiert und die Bilder an ein lokales Medium schickt? Was ist mit komplizierteren Fällen; etwa bei Leuten, deren Garten zur Straße rausgeht, die den Grill mit der Zeitung anheizen wollen und von Passanten dabei beobachtet werden? Gilt das dann auch als eine öffentliche Bücherverbrennung? Und was ist mit jenen, die nichts abfackeln, aber mit ihrer Zeitung den Vogelkäfig auslegen, auf dass das Federtier sie unter völligem Mangel an Respekt für das geschriebene Wort über Tage zukacken möge? Das ist doch auch ein Akt der absichtlichen Vernichtung von schriftlich fixiertem Gedankengut – oder mangels Flammen doch nicht?

Gedankenspiele, gewiss. Letztlich ist es zweifellos die Symbolhaftigkeit des Verbrennungsvorgangs, der bei den Leuten die Stirnader pulsieren ließ – kurz, die Kurzschlusskonnotation “Feuer + Schriftstück = Nazis”. Natürlich sollte man, ich wiederhole mich da gern, möglichst früh vor faschistischen Tendenzen warnen. Aber es sollten dann auch faschistische Tendenzen sein. Alles andere führt nämlich nur ein paar Schritte weiter auf jenem Weg, der schon vor langer Zeit gar nicht erst hätte eingeschlagen werden sollen: Dem mit andauernden Wiederholungen, Übertreibungen und Fehlalarmen gepflasterten Weg, der zur allgemeinen Abstumpfung gegenüber der wirklichen Gefahr von rechts führt.

Ein noch ernsteres Problem zeigt sich in meinen Lieblingsvorwürfen: Eine solche Aktion wie die Bild-Verbrennung, so poltern da einige los,  sowie die Berichterstattung darüber sei ein Angriff auf die Pressefreiheit. Diese These finde ich erstaunlich; ich dachte bislang immer, die Pressefreiheit sei vor allem dann in Gefahr, wenn über etwas nicht berichtet wird; sei es aus Gründen einer offenen oder verkappten Zensur oder auch schlichter Gewaltausübung. Die Pressefreiheit ist ein sehr hohes und außerordentlich wichtiges Gut, und es ist im Prinzip ja auch begrüßenswert, wenn Menschen sie frühzeitig in Gefahr sehen und nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Aber noch besser wäre es, wenn sie sich im klaren darüber wären, was genau es ist, worüber sie sich wortreich ausbreiten. Die Pressefreiheit schützt die Presse, gewiß – aber nicht vor dem Feuerzeug eines gefrusteten Bürgers, sondern vor – da haben wir es wieder – staatlicher Einflussnahme. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Lustig wird es, wenn dieselben Leute, die das berichtende Medium – in diesem Fall den “Lokalteil” – der Missachtung der Pressefreiheit bezichtigen, im selben Atemzug dasselbe Medium für dessen Art der Berichterstattung angreifen oder, wie in einigen Fällen, sogar die Nichtberichterstattung einfordern. Der von mehreren Lesern erhobene Vorwurf, die Aktion sei im Artikel in zu positivem Licht dargestellt, ist geradezu grotesk: Entweder gilt die Pressefreiheit, und der Autor kann berichten, wie er es für richtig hält, oder man spricht ihm dieses Recht ab – und damit, Sie ahnen es, die Pressefreiheit selbst. Ach, wenn ich so darüber nachdenke: Eigentlich ist das alles andere als lustig. Wie man diesen geistigen Spagat zwischen Bewahrenwollen der Freiheit mit dem gleichzeitigen Wunsch der Beschneidung derselben hinbekommt, würde ich gerne mal erklärt bekommen.

Habe ich noch etwas vergessen? Ach ja, die Meinungsfreiheit, die nach Ansicht einiger Leser ebenfalls missachtete. Die wurde in diesem Fall tatsächlich angegriffen. Allerdings wiederum nicht durch die Verbrennungsaktion – schließlich wurde durch sie die Bild-Redaktion nicht davon abgehalten, ihre Meinung zu äußern, und wird sich durch solche Vorkommnisse mit Sicherheit auch künftig nicht davon abhalten lassen. Auf der anderen Seite war die Verbrennung genau das: die freie Meinungsäußerung eines Bürgers. In Form und Ausdruck mag man sie für gut, schlecht oder meinetwegen bekloppt halten – sie bleibt trotzdem eine und ist, wie jede andere Meinung, verfassungsmäßig geschützt. Die Thematisierung einer solchen Meinung in der Presse ändert daran nichts; und wenn, dann wird der Freiheitsaspekt eher noch bestärkt.

Ich könnte seitenweise weitermachen, aber will es dabei belassen. Mir wird nur allmählich angst und bange, wenn ich sehe, wie manche Leute mit dem Mund die Bewahrung einer Freiheit einfordern und sie im Hirn schon längst für sich abgeschafft haben. Liebe Leute: Die Presse ist nicht dazu da, eure Meinung niederzuschreiben. Sie ist auch nicht dazu da, eure Kämpfe auszufechten. Sie ist dazu da, euch Materialien an die Hand zu reichen, mit deren Unterstützung ihr eure Meinung bilden könnt, aber auch nicht müsst. So einfach ist das.

Nur noch ein Wort zur heftig kritisierten, weil als bejubelnd empfundenen Überschrift des diskutierten Artikels (“Burn, Gratis-Bild, Burn!”): Auch die stammt nicht von mir, aber ich konnte sie sofort einordnen. Als Reminiszenz an das geflügelte, aus dem US-amerikanischen Englisch stammende Wort “Burn, Baby, Burn”, das mir schon in mehreren Comics und einer Reihe von – faschistischen Gedankenguts vollkommen unverdächtigen –  Songs begegnet ist. Und, nebenbei gesagt, auch schon in der österreichischen “Die Presse”. Die Überschrift über diesem Blogpost ist übrigens von einem Filmtitel hergeleitet. Gemerkt? Egal. Man muss diese Bezugspunkte natürlich nicht kennen; entweder hat man ein Lied schon mal gehört oder eben nicht – aber Unkenntnis ist kein Alibi für Theoriefindung.

Es bleibt die These zu erforschen, ob dieses Phänomen hauptsächlich im Zusammenhang mit der Bild auftritt. Ich hege allmählich diese Vermutung, denn solche kruden Streits um falsch verstandene Pressefreiheit und Meinungsäußerung, von denen ich schon einige ausgefochten habe, scheinen sich regelmäßig an diesem Boulevardblatt zu entzünden; und erstaunlicherweise sind es nahezu immer Bild-Gegner, die es in Schutz nehmen. Was für die Soziologen.

 

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