Gut gebrüllt

Entgegen einer weitverbreiteten Annahme sind Internetdiskussionen nicht so sehr durch den Umstand geprägt, dass man seine(n) Mitdiskutanten in den meisten Fällen nicht persönlich kennt und auch nie persönlich gegenüberstehen wird. Natürlich spielt das eine gewichtige Rolle. Viel zentraler aber scheint mir folgender Aspekt: Streits im Internet werden – im vollen Bewusstsein der Beteiligten – in aller Öffentlichkeit ausgefochten. In der analogen Welt passiert so etwas zumeist nur unter Einfluss einer erheblichen Menge Alkohol und/oder Adrenalin.

Und da man bei einer Onlinediskussion stets eine mal mehr, mal weniger große Anzahl von Zuschauern resp. Mitlesern hat, geht es weitaus mehr als im realen Leben darum zu gewinnen, egal wie – schließlich will man ja vor all den anderen Fantasienamen tragenden Lesern nicht als Loser dastehen, oder? Aber wie gewinnt man so eine, nun ja, Debatte um irgendein obskures Thema, sei es nun ein politisches, ein sportliches oder eines nerdhaftes? Die Antwort: Mit diesem hilfreichen Handout.

Schritt 1: Ouverture

Begeben Sie sich schon zu Beginn auf eine moralisch höhere Warte als Ihr Gegenüber. Es macht nichts, wenn Sie keine Ahnung vom Thema haben oder der von Ihnen vertretene Standpunkt überhaupt keinen Sinn ergibt – bringen Sie Ihren Kontrahenten durch eine geschickte Mischung aus vorgetäuschtem Hintergrundwissen und Überheblichkeit sofort in Rechtfertigungsdruck. Gut geeignet sind nebulös formulierte Vorab-Schlussfolgerungen: „Für deine Art der Argumentation gibt es gewisse Bezeichnungen …“ oder „Du weißt schon, wonach das klingt, was du da schreibst?“ Diese Sätze eignen sich übrigens auch hervorragend, um die Diskussion überhaupt erst loszutreten. Wichtig ist, den Gegner aus der Defensive, in die Sie ihn drücken, unter keinen Umständen wieder herauszulassen. Sollte Ihr Kontrahent zu ihren unausgesprochenen Anschuldigungen nicht Stellung nehmen, dürfen Sie den Streit schon jetzt als gewonnen betrachten.

Schritt 2: Deutungshoheit

Ihr Kontrahent lässt sich darauf ein? Dann interpretieren Sie seine Ausführungen auf jene Art und Weise, die am besten in Ihre eigene Argumentation passt. Machen Sie sich nicht allzu große Sorgen darüber, ob diese Interpretationen offenkundig unsinnig sind – sofern Sie sie nur mit ausreichend Nachdruck vortragen, spielt das keine Rolle. Je wortgewaltiger, desto besser – helfen Sie notfalls mit einigen zusätzlichen Ausrufezeichen nach. Halten Sie Ihren Gegner in ständigem Erklärungsdruck und lassen Sie sich keinesfalls auf Versuche, den Spieß umzudrehen, ein. Falls Ihnen das nicht gelingt, ist es Zeit für den nächsten Schritt.

Schritt 3: Verwirrspiel

Sollte Ihr Gegner nicht nachgeben oder gar die Frechheit besitzen, Ihrer im vorausgegangenen Schritt kommunizierten Interpretation seiner Gedankenwelt zu widersprechen und vielleicht gar seinerseits Ihre Äußerungen auseinanderzunehmen, ist es an der Zeit, ihm möglichst verwerfliche Behauptungen in den Mund zu legen. Wichtig: Zitieren Sie ihn nie wörtlich – dabei fliegt diese Strategie zu leicht auf. Immer die indirekte Rede wählen: „Du hast doch selber gesagt, dass …“ Kümmern Sie sich nicht um unwichtige Details wie etwa der Frage, ob er das tatsächlich und unmissverständlich so ausgedrückt hat – Grundlage dieser Strategie bleiben stets Ihre Interpretationen, nicht die Ansichten des Gegenübers! Etwaige Mitleser scrollen so gut wie nie zur entsprechenden Äußerung zurück, um diese Anschuldigungen zu verifizieren. Die ganz hohe Kunst besteht darin, ihm auf diese Weise Widersprüchlichkeit zu attestieren: „Erst sagst du, es wäre soundso und jetzt was anderes!“ Setzen Sie Links auf Seiten, deren Inhalt überhaupt nichts mit der Argumentation des Gegners zu tun haben, aber Ihre untermauern, und präsentieren Sie diese im souveränsten Tonfall, der Ihnen möglich ist, als Beweis dafür, dass Sie Recht haben.

Schritt 4: Volles Pfund

Evtl. müssen Sie an diesem Punkt des Streits damit rechnen, dass Ihr Gegner nun versucht, den Rechtfertigungsspieß umzudrehen und Sie auffordert, Ihre Behauptungen darüber, was er gesagt haben soll, mit Zitaten zu belegen. Lassen Sie sich auf keinen Fall darauf ein: Die Beweislast liegt immer beim Anderen, nie bei Ihnen! Ohnehin müssen Sie sich von dieser Vorgehensweise nicht ins Bockshorn jagen lassen: Sie befinden sich trotzdem auf der Siegerstraße, denn für Mitleser wirkt die Kritik Ihres Gegners an Ihrem Vorgehen kleinlich und bürokratisch, was ihn Sympathien kosten wird, und nur das zählt. Falls es um Ihre  sauer erkämpfte moralische Überlegenheit dennoch eng werden sollte, etwa weil Ihr Gegner sich rhetorisch geschickt genug auszudrücken vermag, feuern sie eine volle Breitseite ab. Falsche Bescheidenheit oder Zurückhaltung sind an diesem kritischen Punkt absolut fehl am Platze: Zweifeln Sie offen die intellektuellen Kapazitäten ihres Kontrahenten an, seine Befähigung, sich selbst die Schuhe zuzubinden, seine biologische Herkunft. Beachten Sie: In der Sache möglichst brutal, im Tonfall aber so gesittet wie möglich! Bringen Sie Ihren Gegner dazu, ausfallend zu werden, haben Sie so gut wie gewonnen.

Schritt 5: Opferrolle

Sollte Ihr Kontrahent wider Erwarten weiterhin sachlich bleiben, verlassen Sie die inhaltliche Ebene und greifen zum Mittel offen zur Schau gestellter Resignation. Durchsetzen Sie Ihre weiteren Äußerungen mit Verzweiflungsrhetorik: „Du willst es einfach nicht verstehen“ ist ein zeitloser Klassiker, der eigentlich immer hilft. Sie können Ihrem Gegner auch gut – denken Sie an Ihre moralische Überlegenheit! – ein Festklammern an Vorurteilen (damit sind alle seine Standpunkte gemeint) attestieren. Damit ziehen Sie die political-correctness-Fraktion unter den Lesern auf Ihre Seite, zumindest die etwas einfacher gestrickten. Tun Sie so, als wäre Ihnen ja eigentlich sehr an einer sachlichen Weiterführung der Debatte gelegen, was sich aber leider, ach, aufgrund der Starrsinnigkeit des Kontrahenten als schlicht unmöglich erweist.

Schritt 6: Zurück auf Los

Wenn Sie geschickt vorgegangen sind, sollten Sie spätestens jetzt Ihren Gegner so weit haben, dass er beleidigend wird – und sich damit endgültig vor allen Mitlesern disqualifiziert. Herzlichen Glückwunsch, in diesem Fall haben Sie gewonnen und können sich souverän aus der Diskussion verabschieden. Allerdings auch nur in diesem Fall – bleibt ihr Gegenüber auch jetzt noch sachlich und faktenorientiert, haben Sie es schwerer. Denn die Grundregel lautet: Immer das letzte Wort behalten! Der oben erwähnte Fall bildet die einzige Ausnahme. Vergessen Sie nie: Nicht der Klügere – das sind immer Sie! – gibt nach, sondern der Schwächere. Wiederholen Sie die Schritte 3, 4 und 5 in beliebiger Reihenfolge so lange, bis Ihr Gegner Ruhe gibt. Sie haben den längeren Atem, denn Sie haben mehr Zeit als jeder andere – sonst würden Sie ja nicht in Blogs, Chats und Foren Streit suchen.

Schritt 7: Godwin

Gewissermaßen die Notbremse für den Fall, dass Sie aus der Dauerschleife der vorangegangenen Schritte nicht herauszukommen drohen: Wenn alle Stricke reißen, rücken Sie Ihren Gegner in eine gedankliche Nähe zu Nazis. Aber greifen Sie nicht zu früh zu dieser Waffe und gehen Sie nicht zu platt vor – auch hier gilt: nebulöse Andeutungen sind besser als direkte Verbalknüppel. Vermeiden Sie Worte wie „Nazi“, „NS-Zeit“ oder „Hitler“ – besser ist es, wenn Sie Argumente des Gegners mit Formulierungen wie „Sowas hatten wir in Deutschland schon mal!“ parieren, nach Bedarf ergänzt durch „… und wir wissen ja, wo das hinführt!“

Mit diesem Rüstzeug versehen dürfte es Ihnen nicht schwer fallen, sich in jeder denkbaren Onlinedebatte durchzusetzen. Probieren Sie es aus! Aber fangen Sie klein an: Nehmen Sie irgendeine Facebookdiskussion zu einem Thema, das mit Ihnen persönlich nichts zu tun hat. Steigern Sie sich dann langsam und arbeiten am Feinschliff; besuchen Sie die Kommentarspalten von Medien mit örtlich begrenzter Wahrnehmung, treten Sie Foren bei und brechen dort Debatten vom Zaun – sollten Sie von den Moderatoren gesperrt werden, ist das ein Hinweis darauf, dass Sie noch ein wenig üben und Erfahrungen sammeln sollten.

Sobald Sie soweit sind, betreten Sie die Beletage der Internet-Streithammel; die Manege, die Ihnen alles abverlangen wird, weil hier nur die Besten unterwegs sind, die Gehässigsten, die Arrogantesten und die mit der meisten Freizeit; Diskutanten, die mit allen Wassern gewaschen sind, die Champions League der Klugscheißer und Arschkrampen: das Spiegel-Online-Forum. Nur hier können Sie ewigen Ruhm erlangen. Schade ist bloß, dass das außer Ihnen niemand zu würdigen wissen wird – aber hey, die Anderen sind doch eh alle Idioten, nicht wahr?

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