Um es mit Marx zu sagen: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kalten Krieges. Oder, falls Sie es nicht so mit Marx haben, sagen wir es mit der Band Dschingis Khan: „Moskau / Fremd und geheimnisvoll / Türme aus rotem Gold / Kalt wie das Eis“. Wie auch immer: Der Russe ist wieder da. Sie wissen schon: derselbe, der schon früher immer vor der Tür stand.
Zumindest die Rhetorik im Zusammenhang mit der Krim-Krise klingt schwer nach den 80ern, nach Kaltem Krieg wie nach Reaganscher Eiszeit – und das weitaus stärker aufseiten des Westens. Vermutlich ist es im Bestreben, einen Krieg zu verhindern, äußerst dienlich, die andere Seite schon im Vorfeld nach Kräften zu dämonisieren, aber – man mag mich naiv nennen – ich halte es für sinnvoller, zunächst einmal zu versuchen, die andere Seite zu verstehen, das heißt: ihre Beweggründe wertungsfrei nachzuvollziehen.
Denn Moskau unternimmt im Moment kaum etwas anderes, als die USA und mit ihr die Nato in einem ähnlichen Fall auch tun würden. Das Bemerkenswerte an dieser Krise ist daher nicht, dass sie so plötzlich ausgebrochen ist, sondern dass ihre Entwicklung in einem derart hohen Maße vorhersehbar war, dass man nicht umhinkommt, sich zu fragen, ob man überhaupt von einem „Ausbruch“ sprechen kann. Wenn sie nicht von Anfang an gezielt herbeigeführt wurde, so wurde sie mit Sicherheit gezielt befeuert – und wird es immer noch.
Denn wenn man schon die Geschichte herbeibemüht, indem man die aktuelle Reaktion Moskaus mit alten Sowjetzeiten vergleicht, dann sollte man auch so konsequent sein, alle damit in Zusammenhang stehenden historischen Aspekte in die Rechnung einzubeziehen und nicht nur die, die einem gerade in den Kram passen. Dann wüsste man nämlich auch, dass die Krim eben nicht Abchasien ist. Und schon gar nicht Afghanistan.
Bewerten wir die Entwicklung der vergangenen Monate doch einmal, nur der Abwechslung halber, aus der Perspektive Moskaus – sowas schadet selten, wenn man Politik verstehen will. Und lassen wir für den Moment einmal beiseite, dass Wladimir Putin natürlich ein eiskalter und mehr als nur ein bisschen autoritär herrschender Machtpolitiker ist und Viktor Janukowitsch ein korrupter, selbstherrlicher Potentat, der auf sein eigenes Volk schießen ließ. Betrachten wir Russland einfach mal als Land, als Player im globalen Mächtesystem – wenn Sie sich besser dabei fühlen, stellen Sie sich kurz vor, es handele sich um einen westlichen Player.
Da gibt es also das Nachbarland Ukraine, wirtschaftlich und strategisch von enormer Bedeutung. Im Westen liegt, auch nicht weit, der Machtblock EU, mit dem man sich zwar arrangiert, aber im Grunde nicht so dolle versteht. Und es gibt die Nato, die sich seit zwei Jahrzehnten nach Kräften bemüht, ihre Ostgrenzen bis vor die Haustür des Kreml vorzuschieben und in ihrem rabiaten Offensivdrang schon früher offen um Kiew buhlte. Wirtschaftlich ist die Ukraine für Moskau wegen der engen ökonomischen Verflechtungen, des Außenhandels und der Gaspipelines wichtig, die durch das Land führen. Strategisch vor allem wegen des Flottenstützpunkts Sewastopol. Und der liegt auf der Krim.
Als die Russen Ende des 18. Jahrhunderts die Krim dem Osmanischen Reich abnahmen, war das ein wesentlicher Schritt im bereits damals alten Bestreben, einen Zugang zum Mittelmeer und einen eisfreien Hafen zu gewinnen. Planmäßig wurde Sewastopol zum Kriegshafen ausgebaut und die Krim russisch besiedelt – dass noch heute die überwiegende Mehrheit der Krimbewohner Russen sind, ist kein Zufall. Dass einer der heftigsten Kriege zwischen Großmächten im 19. Jahrhundert, der Krimkrieg, dort ausgefochten wurde, auch nicht. Dass Nikita Chruschtschow die Halbinsel seinerzeit der Ukrainischen SSR als Zeichen des guten Willens schenkte, macht keinen Unterschied: Der Mann hat vermutlich keine Sekunde daran gedacht, dass die Sowjetunion je auseinanderbrechen würde. Und während der Aspekt mit dem eisfreien Hafen im 20. Jahrhundert sicher an Bedeutung verlor, nahm die strategische Bedeutung eher noch zu. Denn gegenüber der Krim, an der Südküste des Schwarzen Meeres, liegt die Türkei. Und die gehört bekanntlich zur Nato.
Kommen wir zurück zur Ukraine, der heutigen, betrachtet aus Moskauer Perspektive. In diesem trotz aller Querelen als grundsätzlich befreundet geltenden Nachbarland entsteht relativ plötzlich eine Massenbewegung, deren Anhänger nichts weniger als den Sturz der gewählten Regierung fordern, weil sie eine Neuausrichtung der wirtschaftlichen Außenbeziehungen fordern, sich lieber von der EU als von Russland ausplündern lassen wollen und, so zumindest der Tenor, dafür auch zu sterben bereit wären. Dieser Grund taucht in der Liste historisch bekannter Revolutionsauslöser eher nicht so häufig auf, aber egal.
Sie beobachten also vom Kreml aus, wie die Anführer der Aufständischen in westlichen Regierungssitzen ein- und ausgehen. Sie schauen zu, wie hochrangige Vertreter der EU und der Nato die Bewegung offen unterstützen, mit Worten, mit Präsenz und mutmaßlich auch mit Geld. Sie lesen die immer parteiischer werdenden Schlagzeilen westlicher Medien und lauschen der zunehmend wütender klingenden antirussischen Agitation; Sie registrieren, wie das Wort „prorussisch“ zu einer Chiffre für „feindlich“ wird. Und die Stimmung auf dem Maidan immer aufgeheizter. Sie beginnen, über die Möglichkeit eines vom Westen gesteuerten „regime change“ nachzudenken.
Und dann, nach dem ersten Auflodern nackter Gewalt und einer durch Vermittlung der EU im letzten Moment ausgehandelten Kompromisslösung zwischen der Kiewer Regierung und der aufständischen Bewegung, die über kurz oder lang ohnehin das Ende der Ära Janukowitsch gebracht hätte, übernimmt letztere das Ruder und zögert keinen Augenblick, den – immer noch gewählten – Präsidenten aus dem Amt zu fegen und die gerade erst erzielten Vereinbarungen zu brechen. An der neuen Regierung bekommen Faschisten – nein, das ist nicht bloß Moskauer Propaganda, lesen Sie sich mal durch, was die Swoboda-Partei so alles fordert – wichtige Posten. Und sie hat nichts besseres zu tun, als zuallererst einmal Russisch als Amtssprache zu verbieten, stets der erste Schritt zur Unterdrückung von Minderheiten, auch wenn die EU Kiew in diesem Punkt ziemlich schnell zurückpfeift. Und schon wieder klopft die Nato an das Tor des Kiewer Regierungssitzes.
Vordergründig mag es dem Kreml um die „russischen Brüder“ auf der Krim gehen, de facto geht es ihm um russische Kriegsschiffe; wie bereits Anfang der 90er beim Ende der Sowjetunion. Moskaus Zugang zum Mittelmeer, sein verteidigungspolitischer und strategischer Eckpfeiler Sewastopol, ja sogar die Schwarzmeerflotte selbst sind in Gefahr, unter die Kontrolle des plötzlich gar nicht mehr so freundlichen Nachbarn zu geraten, der wiederum mehr oder weniger offen mit dem Westen flirtet. Keine Regierung mit Großmachtambitionen würde das untätig hinnehmen. Sie, lieber Leser, auch nicht. Sie regen sich ja schon auf, wenn das Laub aus dem Nachbargarten auf Ihr Grundstück fällt.
Also ergreifen Sie in Ihrer Eigenschaft als russischer Staatschef Sicherungsmaßnahmen; sogar etwas merkwürdige, die geeignet sind, in die Annalen der Außenpolitik einzugehen: Sie schicken Soldaten, denen sie befohlen haben, die Aufnäher von den Uniformen zu reißen, damit niemand von einer russischen Invasion sprechen kann. Natürlich handelt es sich bei den ominösen „Bewaffneten ohne Hoheitszeichen“, von denen nun so oft die Rede ist, dennoch um russische Kräfte. Woher sollen sie denn sonst kommen, woher ihre hochentwickelte Ausrüstung erhalten haben? Wenn das eine spontan gegründete Miliz sein soll, ist sie die bestbewaffnete der Weltgeschichte. Und wenn sich die Leute an die großen Unbekannten gewöhnt haben, schicken Sie noch ein paar reguläre Truppen hinterher.
Dies ist keine Rechtfertigung der zweifellos völkerrechtlich höchst fragwürdigen Politik Moskaus, es ist ein Zurechtrücken der Perspektive. Stellen Sie sich einen Augenblick lang vor, in Bahrain bräche eine von Moskau unterstützte antiamerikanische Revolte aus. Was würden die USA im Hinblick auf ihr dortiges Hauptquartier der Fünften Flotte tun? Oder eine plötzlich extrem antibritische Stimmung in Singapur, gesponsort von, sagen wir, Rotchina? Was würde das Vereinigte Königreich unternehmen, um seinen Stützpunkt zu schützen? Die Antwort liegt auf der Hand: Sie würden den Punkt mit den Soldaten ohne Hoheitszeichen überspringen. Und dabei liegen Bahrain und Singapur weit entfernt von Washington und London. Kiew liegt im Hinterhof Moskaus.
Nein, ernsthaft, die Antwort fällt nicht schwer. Man muss nur an Falkland denken. Oder an Grenada oder Panama. Oder an den Irak 2003. Da brauchte es nicht einmal das Feigenblatt einer akuten direkten Gefährdung von Landsleuten, da reichte ein dreist zusammengestoppeltes Lügengebäude, um eine Invasion – keine Besetzung eines überschaubaren Bereichs, sondern einen ausgewachsenen Eroberungsfeldzug – zu rechtfertigen. Wenn also ein US-Außenminister namens John Kerry in diesen Tagen sagt: „Im 21. Jahrhundert benimmt man sich nicht einfach wie im 19. Jahrhundert und marschiert unter einem erfundenen Vorwand in ein anderes Land ein“, dann ist es genau das, wonach es klingt: Ein Witz. Und kein besonders guter. Hundertausend tote Iraker lachen nicht mehr mit.
Und dann testet der Iwan auf dem Höhepunkt der Krise auch noch eine Interkontinentalrakete. Eine Interkontinentalrakete, bestückbar mit Nuklearsprengköpfen! Wenn das kein Zeichen eines Rückfalls in die Politik des Gleichgewichts des Schreckens ist! Schon sehen wir die buschigen Augenbrauen eines Leonid Breschnew neckisch zucken. Wen stört es da schon, dass man lediglich fünf Sekunden nachdenken muss, um zu dem Schluss zu kommen, das solche Tests Monate vorher geplant und zumindest mittelfristig anberaumt werden. Dass es Putin möglicherweise am Dienstag eine diebische Freude bereitet haben mag, dass ein solcher Test gerade jetzt auf dem Programm stand – who cares. Die gezielte Demonstration der Stärke, zu der der Raketenstart hochgejazzt wird, war er jedenfalls nicht. Zumindest nicht mehr als alle anderen Tests dieser Art.
Wir befinden uns also nicht im freien Rückfall in die 80er, und es droht keine Wiederkehr des Kalten Krieges – dieses Bild wird in erster Linie herbeigeschrieben, -geredet und -gekräht. Als der neue ukrainische Machthaber Arseni Jazenjuk im Januar, damals noch als Oppositionsführer, ein Referendum zur Absetzung Janukowitsch vorschlug, wurde das allseits bejubelt – ein Referendum, prima, die demokratischste Möglichkeit, die demokratische Legitimation des Präsidenten aufzuheben. Aber ein Referendum über die staatliche Zukunft der Krim, wie es Moskau und die Krim-Russen jetzt wollen? Undenkbar! So etwas darf man doch nicht dem Volk überlassen, schon gar nicht, wenn das Ergebnis absehbar ist.
Noch einmal: Es liegt mir fern, mich für einen Staatschef wie Putin in irgendeine Bresche zu werfen. Aber wer die russische Perspektive bewusst ausklammert, wird der komplizierten Situation auf der Krim nicht gerecht. Kurzschlussreaktionen, nach denen Russland sowieso immer das Reich des Bösen geblieben ist, als das Ronald Reagan die Sowjetunion einst bezeichnete, tragen nicht dazu bei, die Krise beizulegen. Und wer planmäßige Raketentests zur Alarmstufe Orange hochstilisiert, während er zugleich Kerrys clownesker Äußerung huldvoll lauscht und als staatsmännisches Statement verbucht, kratzt hart an der Grenze zur reinen Propaganda.
In diesem Machtpoker um ein zwischen divergierenden Interessen eingekesseltes Land, der stellenweise tatsächlich an historische Vorbilder erinnert – nur eben an andere -, haben alle Seiten ordentlich Öl ins Feuer gegossen. Alle – und nicht nur Moskau. Bisheriger Erfolg: An der Ukraine wird von allen Seiten derart kräftig gezerrt, dass sie nun zu zerreißen droht; und um das zu verhindern, stehen bereit: ein politisch dilettierender Ex-Boxer, eine nach jahrelanger Haft rachsüchtige Ex-Regierungschefin, eine Neonazitruppe sowie viel zu viele gedanklich im Jahr 1988 hängengebliebene Falken. Na, wenn das nicht Mut macht.
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