Ein Flüchtlingsmädchen sagt Angela Merkel, dass sie Angst davor hat, abgeschoben zu werden, die Kanzlerin sagt ihr unverblümt ins Gesicht, dass das nun mal so ist, das Mädchen bricht in Tränen aus – eine beschämende Szene, die sich da in einer Rostocker Schule abspielte. Aber nicht nur wegen des unbeholfenen Umgangs Muttis mit der Situation – sondern weil diese so entlarvend war.
Vermutlich waren die Tränen der kleinen Reem noch nicht getrocknet, als die Debatte über die Reaktion der Kanzlerin auch schon voll entbrannte. Kaltherzig fanden sie die einen, durchaus angemessen die anderen. Merkel habe, so die Argumentationslinie der letzteren Fraktion, dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen schließlich keine Extrawurst braten können, die rechtliche Lage sei nun mal so, wie sie ist. Aber genau da liegt das Problem.
Dass Merkel etwas täppisch wirkte – geschenkt, vielleicht kann sie nicht so gut mit Kindern, sie wäre ja nicht die einzige. Dass sie dabei nicht vergaß, ihren Trostversuch öffentlichkeitswirksam ins Mikrofon zu sprechen statt etwas persönlicher direkt an Reem zu richten – hey, sie ist halt Profi. Dass ferner die PR-Abteilung der Initiative “Gut leben in Deutschland” in einem Anfall kaum zu fassender Verlogenheit und Dreistigkeit versuchte, Reems Weinen nachträglich zu einem Gefühlsausbruch aus lauter Aufregung umzudeuten, ist widerwärtig – aber drauf geschissen. Und dass man Merkels Spruch “Wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen – das können wir auch nicht schaffen” ansonsten eher von rechtsaußen zu hören bekommt, ist noch eine Umdrehung ekliger als ich vor dem Frühstück ertragen konnte, aber seien wir großzügig – vielleicht hat sie’s ja anders gemeint. Hoffe ich jedenfalls.
Nein, die zentrale Erkenntnis dieser Szene ist aus meiner Sicht eine andere – und sie ist nicht minder verstörend: Merkel war offensichtlich damit überfordert, mit einem Flüchtlingsschicksal konfrontiert zu werden, das in ihrer Vorstellungswelt so vermutlich gar nicht existiert. Für sie – und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für den Rest ihres Kabinetts – gibt es im Wesentlichen zwei Arten von Flüchtlingen: Die, die laut Gesetz ein Recht haben, hier zu sein und jene, die das nicht haben; und sei es nur unter Berufung auf das Dublin-Abkommen, mit dem sich Deutschland seit Jahren praktischerweise ein großes Stück weit aus der Verantwortung für die Flüchtlingshilfe gestohlen hat. Nur wer sich nie wirklich vergegenwärtigt hat, dass jedes Flüchtlingsschicksal ein individuelles ist, nur wer die Flüchtlingsproblematik auf ein nacktes Zahlenwerk reduziert, nur wer keinen Gedanken daran verschwendet, dass ein Flüchtlingskinf nach vier (!) Jahren seinen Lebensmittelpunkt hier in Deutschland gefunden hat und von einer schönen Zukunft träumt – nur so jemand kann auf den absurden Gedanken kommen, das Mädchen sei deshalb völlig aufgelöst, weil es glaubt, sich blamiert zu haben. Anders läst sich das Getätschel zu dem Satz “Du hast das doch prima gemacht” nicht erklären.
Selten zeigt sich der technokratisch durchgestylte deutsche Asylalgorithmus so offen. Der Mechanismus kennt zwei Grundeinstellungen: Entweder kommt ein Flüchtling direkt aus einem als solchen akzeptierten Krisengebiet oder eben aus einem als “sicher” deklariertem Drittland. Ein weiterer Schalter wird dann auf “Verfolgung anerkannt” oder “nicht anerkannt” gedreht, ganz nach Lehrbuch und geltenden Richtlinien. Aber ein 13-jähriges Mädchen, das hier zur Schule geht, fließend deutsch spricht, Freunde gefunden hat, studieren und etwas aus ihrem Leben machen will? Dafür gibt es keine Schalterstellung, keinen Extrapassus, keine zufriedenstellende Richtlinie – nicht in den Gesetzen, nicht in den internationalen Verträgen und auch nicht in den Eiskammern der Herzen deutscher Regierungsmitglieder.
Dabei wird gerade an diesem Fall überdeutlich, dass sich Schicksale nicht in Schablonen pressen lassen. Wer das doch tut – und wer will bezweifeln, dass die Flüchtlingspolitik nach diesem kurzen Aufreger haargenau so weitergehen wird wie zuvor? -, zeigt, dass Flüchtlinge für ihn vor allem eines sind: eine bloße Rechengröße, die vorzugsweise kein Gesicht haben sollte. Schon gar nicht das eines traurigen Mädchens.
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